Buchkritik

Caroline Wahl – 22 Bahnen

Stand
AUTOR/IN
Kristine Harthauer

„22 Bahnen“ ist der Debütroman von Caroline Wahl, die in Mainz geboren und in der Nähe von Heidelberg aufgewachsen ist. Ein Debüt, das richtig begeistert, findet unsere Rezensentin Kristine Harthauer.

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Die ersten Freibäder im Südwesten haben bereits geöffnet, jetzt fehlt nur noch das passende Wetter. Anders geht es da Tilda und ihrer kleinen Schwester Ida, den beiden Hauptfiguren in dem Roman „22 Bahnen“: Besonders Ida liebt es, bei Nieselwetter im Freibad tauchen zu gehen.

Es ist für sie eine kleine Flucht aus dem Alltag, in dem das Familienleben geprägt ist von der Alkoholsucht ihrer Mutter. Ihre große Schwester Tilda schlüpft immer mehr in die Mutter-Rolle und versucht nicht unterzugehen: Als Studentin, kurz vor ihrem Abschluss, als große Schwester mit viel Verantwortung und als junge Frau, die sich nach einem Leben jenseits der Pflichten und der öden Kleinstadt sehnt.

Tilda tanzt. Sie versucht, ihren Körper treiben zu lassen, ihre Bewegungen sind fließend, ihr Kopf leer. Aber es will nicht so recht klappen:

„Da ist mein Körper, und da ist die Musik, und mein Körper bewegt sich zu der Musik, und das fühlt sich gut an. Aber da ist auch eine kleine Ida, und da ist eine trinkende Mutter in meinem Kopf. Ich öffne die Augen, mustere die Tanzenden um mich herum, [ihre verschwitzten Gesichter, ihre zuckenden Gliedmaßen] und denke an Ida. Ich schließe wieder die Augen, aber es ist zu spät. Der desillusionierende Moment schießt krass rein. Das ist alles so bescheuert und absurd. Ich gehe."

Abends einfach mal ausgehen, nicht mal das ist möglich. Tilda kann ihre kleine Schwester Ida nicht alleine mit ihrer trinkenden Mutter lassen: 1 Flasche Fürst Uranov, 2 Flaschen Blanchet Roséwein, 1 Flasche Rotkäppchen - neuer Rekord, Tag für Tag wird es mehr.

Der Jutebeutel in der Küche füllt sich so schnell mit leeren Flaschen, dass Tilda nun alle zwei Tage zum Glascontainer muss. Und irgendwann kommt immer der Abend, an dem die Stimmung kippt. Und die schlaffe und um sich selbst kreisende Mutter um sich schlägt:

„Mama hat getrunken, und zwar nicht wenig. Ich schlucke, als ich sie grinsend in ihrem kurzen roten Kleid auf wackligen Beinen im Türrahmen stehen sehe. Wenn sie so drauf ist wie die letzten Tage, ist sie eine tickende Zeitbombe. Ich beobachte sie, während sie sich zu uns setzt, ihre glasigen, geschminkten Augen, ihre geröteten Wangen, ihre verschwitzten Haare. Tick, Tack."

Tilda und Ida leben allein mit ihrer alkoholkranken Mutter. Was das bedeutet, dafür findet Caroline Wahl in ihrem Debütroman eine einfache und treffende  Beschreibung: Sie sind keine Abendbrottisch-Familie. Es gibt keine gemeinsamen Mahlzeiten, kein Familienleben, kein Elternteil, das Verantwortung übernimmt.

All das lastet auf Tilda: Sie bringt ihre kleine Schwester morgens in die Schule, bereitet sich anschließend auf ihre Masterarbeit vor und jobbt nachmittags im Supermarkt. Während ihre Freund*innen ausgeflogen sind und sich in der großen Welt selbst verwirklichen, lebt Tilda weiterhin in der öden Kleinstadt. Ihr kleiner Freiraum:

22 Bahnen, die sie täglich im Freibad schwimmt. 22 Bahnen, genau geplant.

Erst ein Angebot ihres Professors reißt sie aus ihrer Routine: Eine Promotionsstelle im fernen Berlin, in ihrem Fach Mathematik. Der perfekte Anschluss an ihren Master. Aber in Tildas Kopf schwebt die große Frage:

„Kann ich Ida mit den Flaschen und Mama allein lassen?"

Caroline Wahls Debüt „22 Bahnen“ ist im klassischen Sinne ein Coming-of-Age-Roman: Die weiblichen Hauptfiguren, also sowohl Tilda als auch ihre kleine Schwester Ida, emanzipieren sich im Laufe der Geschichte. Nur lebt die Herausforderung, der sie sich stellen müssen, mit ihnen unter einem Dach.

Zwischen aufkommender Panik und dem Bemühen um Kontrolle - Caroline Wahl beschreibt wie viel Kraft es kostet, eine alkoholkranke Mutter zu haben. Die Mutter lebt in ihrem eigenen Rhythmus aus Schlafen und Trinken. Doch manchmal setzt sie sich Dinge in den Kopf, die sie nicht erfüllen kann. Dann schlägt ihre Laune um und die Mutter wütet wie eine Naturgewalt:

„Wie immer zeigt das Monster am folgenden Tag Reue, und auch am darauffolgenden hat Mama sich zwar nicht entschuldigt, dafür aber die Wohnung aufgeräumt, geputzt und auch die obligatorischen Spiegeleier gebraten, während Ida und ich schweigend gemalt und gerechnet haben. Sie brät meistens Spiegeleier, wenn sie Scheiße gebaut hat. Ida und ich hassen inzwischen Spiegeleier."

Wie ein gefährliches Tier analysiert und beobachtet Tilda ihre Mutter. Wir erleben aus ihrer Perspektive, was es bedeutet, ein Leben in permanenter Anspannung zu führen. Unaufmerksam zu sein, darf sie sich nicht leisten, alles registriert sie mathematisch genau: 17 Mal hat die Mutter ihren Töchtern bereits versprochen, dass sie sich ändern will und 13 Mal behauptet, dass sie es diesmal ernst meint.

Und doch weiß Tilda: Die guten Phasen halten nur kurz an. Und sie weiß, dass sie nicht für immer auf ihre Schwester aufpassen kann, dass die kleine Ida lernen muss, für sich einzustehen. Das könnte schnell ins Kitschige kippen, aber das passiert nicht. Caroline Wahl hält die Balance. Nie kippt ihr Text in eine romantisierende Milieustudie.

Sie nimmt ihre Heldinnen ernst, verliert kein Wort zu viel und ist doch ganz nah bei ihnen. „22 Bahnen“ beschreibt eine Welt, die sowohl in der gesellschaftlichen als auch in der künstlerischen Realität zu oft unterm Radar liegt. „Ach Ida, das ist hier doch keine Liebesgeschichte“, belehrt Tilda ihre Schwester an einer Stelle. Aber doch, ist es.

Tilda wird das noch merken: Eine große Zuneigung der Autorin zu ihren Heldinnen, eine unerschütterliche Liebe zwischen zwei Schwestern und auch eine unerwartete Sommerliebe. Denn ein Freibadsommer muss mehr sein, als täglich 22 Bahnen zu schwimmen.

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