SWR2 Buch der Woche vom 7.10.2018

Band 12 der Serie "Ein Tanz zur Musik der Zeit"

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AUTOR/IN
Sabine Grimkowski

Band 12 der Serie: „Ein Tanz zur Musik der Zeit“

Jetzt ist er abgeschlossen: der große Romanzyklus über die britische Oberschicht von Anthony Powell. Zwölf Bände umfasst das Gesellschaftsepos, in dem rund 400 Figuren auftreten. Im Zentrum steht Nick Jenkins, geboren 1906, der sein Leben erzählt – College und Landsitz inklusive. Ein großes Gesellschaftsporträt der upper class!

Zwölf Bände! Soll man die wirklich lesen? – Ja!

In England zählt er zu den ganz großen Schriftstellern, in Deutschland wird er gerade entdeckt. Nun liegt mit Erscheinen des zwölften Bandes sein Werk „Ein Tanz zur Musik der Zeit“ im Elfenbein Verlag komplett vor. Der kleine Berliner Verlag hat sich zusammen mit dem Übersetzer Heinz Feldmann dieser Aufgabe über Jahre hinweg gewidmet.

Als nützliche Ergänzung zu Powells nun vollständigem Romanwerk ist auf Deutsch das Nachschlagewerk von Hilary Spurling erschienen mit dem schönen Titel „Einladung zum Tanz“.

Ein Kunstwerk dient dem Autor als Vorlage

„Ein Tanz zur Musik der Zeit“, so heißt ein Gemälde des Barockmalers Nicolas Poussin. Es ist eine Allegorie der Vergänglichkeit. Umgeben von Symbolen der Endlichkeit tanzen vier junge Frauen fröhlich den Reigen des Lebens. Als er dieses Gemälde in der Londoner Wallace Collection gesehen habe, schreibt Anthony Powell in seinen Memoiren, habe er gewusst, wie sein Roman aussehen solle, nämlich wie Menschen sich nach einer Melodie bewegen, die ihnen die Zeit vorgibt.

Anthony Powell, 1905 in London geboren, besuchte das College in Eton und studierte in Oxford Geschichte. Er arbeitete als Lektor in einem Londoner Verlag und heiratete in den englischen Adel hinein. Während des Krieges diente er als Offizier im militärischen Geheimdienst, danach war er als Literaturkritiker und Schriftsteller tätig. An seinem Roman hat Powell über fünfundzwanzig Jahre geschrieben, der letzte Band erschien 1975.

Protagonist Nicholas Jenkins erinnert sich an sein Leben

Der Ich-Erzähler ist ein Mann namens Nicholas Jenkins, dessen Biografie mit der des Autors weitgehend identisch ist. Dabei umfasst der zwölfbändige „Tanz“-Zyklus einen Zeitraum von fünfzig Jahren, beginnend im Dezember 1921 mit Jenkins' ausgehender Collegezeit. Die Eingangsszene trägt das gesamte Romanprojekt im Kern in sich, mit ihr setzt die Erinnerungsarbeit des Erzählers ein:

An einem Winternachmittag in der Dämmerung beobachtet Jenkins Straßenarbeiter, die sich vor einem Eimer mit brennenden Kohlen die Hände wärmen. Es fällt Schnee. Er fühlt sich durch die archaische Szene an die Welt der Antike und an Poussins Tanz-Gemälde erinnert, worin er die Verkörperung irdischen Lebens erkennt.

Die Vergangenheit wird mit fiktiven Mitteln nachgestellt

Powell ist kein Erfinder von Geschichten, er rekonstruiert Vergangenheit – individuelle und kollektive – mithilfe fiktionaler Mittel. Nicholas Jenkins' Lebenslauf gibt dem Roman eine Struktur, ist aber nicht das das eigentliche Thema.

Das benennt der Übersetzer Heinz Feldmann, der Jahre damit verbrachte, die zwölf Bände in angemessener Eleganz ins Deutsche zu bringen, folgendermaßen: „Das Grundthema ist die Determination unseres Lebens, die Fremdbestimmung unseres Handelns, fremdbestimmt einmal durch das genetische Erbe, fremdbestimmt durch unsere soziale Herkunft, fremdbestimmt durch unsere zufälligen Begegnungen und Erlebnisse.“

Eine durchgehende Handlung sucht man im „Tanz“ vergeblich. Powell, in dieser Hinsicht Marcel Proust nicht unähnlich, erschafft einen menschlichen Kosmos, in dessen Mittelpunkt der Erzähler Nicholas Jenkins steht. Seine Welt ist die der englischen Upper Class, wie sie in exklusiven Clubs, auf Dinnerpartys und in Kreisen gebildeter Universitätsabsolventen zu finden ist.

Der Leser erhält Einblicke in eine fremde Gesellschaftsklasse

Eine uns eher fremde Gesellschaftsschicht, sagt Heinz Feldmann: Es sei eine Gesellschaftsklasse, die ein Netzwerk bildet, des englischen Adels, der englischen Eliteschulen, aus Kreisen der Wirtschaft, des Finanzwesens, der Politik und vor allem auch aus Kreisen der Kultur, der Malerei und der Literatur.

Hunderte von Personen bewegen sich – mal mehr, mal weniger nah – durch Jenkins‘ Leben. Sie tauchen auf, verschwinden und kreuzen, falls sie nicht gestorben sind, was auch, vor allem im Krieg, vorkommt, den Lebensweg des Protagonisten später erneut. Koinzidenzen nennt das der Autor. Da ist zum Beispiel Sunny Farebrother, dem Jenkins zum ersten Mal als Collegeabsolvent begegnet.

Der „Tanz“ ist wie ein Gewebe, das sich aus diesen Koinzidenzen zusammensetzt. Durch ihren unverwechselbaren Charakter prägen sich die Figuren so ein, dass man sie auch nach zwanzig Jahren wiedererkennt. Und falls nicht: Gleichzeitig mit Band 12 erscheint ein ausführliches, alphabetisch geordnetes Kompendium der Journalistin und Biographin Hilary Spurling, in dem man Figuren, Orte, Gemälde und Bücher, die im „Tanz“ vorkommen, nachschlagen kann.

Keineswegs prüde – doch in unterkühlter Form dargeboten

Als eine besonders herausragende Persönlichkeit sei der unbeholfene, stämmige Kenneth Widmerpool erwähnt, einer von Jenkins' Mitschülern im College. Eigentlich der geborene Looser, legt er eine steile Karriere beim Militär und später in der Politik hin. Mit ihm beginnt und endet der „Tanz“. In hoppelndem Dauerlauf tritt er zu Beginn des ersten Bandes in Jenkins' Leben, am Ende des zwölften Bandes bricht er nach einem Waldlauf tot zusammen.

Eine weitere unvergessliche Figur ist die unberechenbare Pamela Flitton, „ein Teufel von einer Frau“, wie Herbert Stevens, einer von Pamelas zahlreichen Geliebten, bemerkt. Sie übt eine verheerende Wirkung auf Männer aus und heiratet Widmerpool, ohne ihr weit verzweigtes Liebesleben aufzugeben.

Prüde geht es im „Tanz“ keineswegs zu, nymphomanische und andere sexuelle Vorlieben oder Bordellbesuche werden nicht ausgespart, auch wenn das Sexuelle, wie eigentlich alles, in unterkühlter Form abgehandelt wird. Hitzigkeit ist offenbar kein erstrebenswertes Ideal der englischen Upper Class.

Ein Porträt der britischen Oberschicht und gleichzeitig ein Meisterwerk der Unterhaltungskunst

Sein „Tanz“, sagt Powell, sei vergleichbar mit einem gepflegten Gespräch beim Abendessen. Es stimmt, der „Tanz“ trägt den Charakter einer gebildeten, kultivierten Konversation, unterschnitten von Powells unnachahmlicher trockener Ironie.

Der Übersetzer Heinz Feldmann beschreibt die Powellsche Sprache als eine sehr präzise Sprache. Es sei die Sprache der englischen Oberschicht, der englischen kultivierten Oberschicht: „Sie ist einmal charakterisiert durch Präzision ihrer Darstellung, aber auch gleichzeitig durch ihre Laxheit, auch grammatische Laxheit, die ein wunderbares Vehikel ist für das, was er darstellen will, nämlich die Vielfalt des Lebens und die gleichzeitige Determiniertheit.“

In Powells „Tanz“ findet man nicht die unbeschwerte Heiterkeit der Screwball-Komödien des Zeitgenossen P.G. Woodhouse, nicht den Sarkasmus der Gesellschaftsdramen von Evelyn Waugh, der den Kollegen Powell außerordentlich schätzte. Der „Tanz“ ist vielmehr ein faszinierendes Sittengemälde aus dem England des 20. Jahrhunderts, ein Porträt der englischen Oberschicht. Es lotet die Tiefe menschlichen Daseins aus und ist gleichzeitig ein Meisterwerk der Unterhaltungskunst – und very very British.

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Sabine Grimkowski