Buchkritik

Bob Dylan – Philosophie des modernen Songs

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AUTOR/IN
Bernd Lechler

Literaturnobelpreisträger Bob Dylan hat endlich ein Buch geschrieben. Es geht natürlich um Musik. In „Die Philosophie des modernen Songs“ stellt der 81jährige seine Lieblingssongs vor – und bleibt sich dabei treu.

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„El Paso“, Marty Robbins 1959

„Das ist eine Ballade über den ketzerischen Cowboy, der sich einfach so in ein tanzendes Mädchen mit seidenweicher Haut verliebt. Der Song haut dich um, und noch bevor du wieder aufstehen kannst, haut er dir noch mal eine rein.“
(Aus: Bob Dylan - Philosophie des modernen Songs)

„London Calling“, The Clash 1979

„Punkrock ist die Musik der Frustration und der Wut, aber The Clash sind anders. Ihre Musik ist eine der Verzweiflung. Alles müssen sie da hineinpacken. Dabei haben sie so wenig Zeit.“
(Aus: Bob Dylan - Philosophie des modernen Songs)

Wo soll man nur anfangen bei so einem chaotischen Kompendium, bei einem so atemlosen, metaphernschweren Sprachstrudel von einer Musikkritik? Vielleicht mit dem, was fehlt. Die Beatles! Die Beach Boys, David Bowie, Leonard Cohen. Aretha Franklin! Und Rap sowieso, überhaupt die letzten dreißig Jahre weitgehend: Bob Dylan hat die Lieder, mit denen er sich befasst, gnadenlos subjektiv ausgewählt. Weshalb es auch viel zu entdecken gibt, denn wer kennt heute schon etwa The Fugs?

The Fugs, “CIA Man”

Es sind fast nur männliche Autoren und Interpreten, die Dylan interessieren, und fast nur Amerikaner. Durchaus revolutionäre Klassiker von Little Richards „Tutti Frutti“ bis zu „Ball Of Confusion“ von den Temptations; legendäre Interpreten von Frank Sinatra und Ray Charles bis Elvis Presley, Johnny Cash und Willie Nelson, aber auch einige unerwartete: Die Eagles, hätte man denken können, seien ihm zu glatt - und Perry Como zu spießig. Aber in ihm sieht Bob Dylan einen virtuosen Anti-Sinatra und ame­rikanischen Klassiker. 

Perry Como, „Without A Song”

„Er war schon ein Cadillac, bevor es Heckflossen gab; ein 45er Colt, keine Glock; ein Steak mit Kartoffeln, keine kalifornische Cuisine. Perry Como liefert ab. Kein ge­ziertes Getue, keine hauchdünn über mehrere Töne gezogenen Silben.“
(Aus: Bob Dylan - Philosophie des modernen Songs)

Zu den meisten Songs hat Bob Dylan zwei Texte verfasst, Happen von zwei bis drei Seiten; im ersten beschreibt er die Stimmung und den speziellen Zauber eines Songs oder paraphrasiert bilderreich die Lyrics, wie um vorzuführen, dass er das genauso gut gemacht hätte.

Im zweiten Abschnitt geht es dann oft um den jeweiligen Sänger, um Fakten, Hintergründe, historische Bezüge – und ums Handwerk: Dylan registriert hier eine auffällige Einleitung, da ein ungewöhnliches Reimschema, kommentiert gesangliche Raffinessen, erkennt Melodien als bei Bach oder Rachmaninoff geklaut - oder Parallelen zwischen Bluegrass und Heavy Metal: Beide schwer traditionsbewusst, erklärt er, beide seit langem unverändert, und Fans wie Musiker trügen auch die gleiche Mode wie ihre Helden aus lang vergangenen Jahrzehnten. Anstoß zu diesem Exkurs gibt das wahrlich wahnwitzig „Ruby Are You Mad At Your Man“ von den Osborne Brothers aus Kentucky.

Osborne Brothers, „Ruby Are You Mad At Your Man“

„Instrumentiert mit zwei Fiddles, schnell und unter Hochspannung. Keine Melodie, eine Tonart, alle mit hundert­sechzig Stundenkilometern unterwegs. Ein Song, um mit dem Wagen über ein Klippe zu fahren, das Radio läuft, und man spürt nichts.“
(Aus: Bob Dylan - Philosophie des modernen Songs)

So geht das ständig: Der Musikkenner aber eben auch Lyriker Dylan braucht keinen halben analytischen Satz, um sofort wieder ins wild Assoziative abzuheben, das ist ein großer Lesespaß und der Hauptgrund, warum niemand anders dieses Buch so hätte schreiben können. Da gibt es Songs, die sich den Staub von den Stiefeln schütteln; Songs, die man erst kommen sieht, wenn es zu spät ist.

„My Generation“, The Who

Ein Song,

„- der niemandem einen Gefallen tut und auf alles den Schatten des Zweifels wirft.“
(Aus: Bob Dylan - Philosophie des modernen Songs)

Und anhand dessen Bob Dylan dann über „Generationen“ ins Philosophiert gerät: über die nach ihm, die auf Tiktok postet und sich Hollywoodfilme aufs Handy streamt - und die vor ihm:

„Marlon Brando, Elvis Presley, Little Richard und die ersten Rocker fielen irgendwo zwischen die Greatest Generation und die Babyboomer; sie waren zu jung, um gegen die Nazis zu kämpfen, und zu alt, um nach Woodstock zu fahren. Doch als Brando in The Wild One auf die Frage eines Mädchens, wogegen er rebelliere, antwortete „Whaddya got?“, wurden damit bereits die Weichen gestellt für die 1960er Jahre und die Auflehnung gegen die picobello Fertigbausiedlungen, die die Jungs nach ihrer Heimkehr aus dem Krieg bauten.“
(Aus: Bob Dylan - Philosophie des modernen Songs)

Aber immer sind es Jungs. Wie gesagt: nur vier dieser 66 Songs stammen nicht von Männern.

Nina Simone, „Don’t Let Me Be Misunderstood“

Und im Kapitel etwa über die große Nina Simone und ihre Version von „Don’t Let Me Be Misunderstood“ bringt Bob Dylan es fertig, vor allem über den männlichen Protagonisten des Songs zu sinnieren sowie über Albert Camus und Esperanto.

Dazu wimmelt es im Buch von stereotypen Vamps und verführerischen Hexen, wobei das halt auch an den Frauenfiguren in den Liedern liegt. Wenn man Dylan das verzeiht und den akademisch-pompösen Titel noch dazu, kann man viel erfahren aus diesen Texten: über das mächtige Format Song, in dem Stories und Philosophie und Zeitgeschichte und Drama und Selbsterkenntnis Platz haben, natürlich auch über Bob Dylan selbst.

Und wie seine Songs ist das alles so bildstark und poetisch geschrieben (und übrigens von Conny Lösch auch gut übersetzt), dass man gar nicht immer verstehen muss, was er meint. Aber eben von einem Songwriter, einem Meister der Kurzstrecke: Das Buch am Stück wird etwas anstrengend, man sollte in kleineren Dosen drin schmökern. Und natürlich die Musik entdecken, um die es geht.

Forum Poet, Prophet, Protestsänger – Der Mythos Bob Dylan

Michael Risel diskutiert mit
Maik Brüggemeyer, Musikjournalist beim „Rolling Stone“
Prof. Dr. Susan Neiman, Leiterin des Einstein Forum Berlin
Willi Winkler, Journalist und Dylan-Biograf

SWR2 Forum SWR2

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Bernd Lechler