SWR2 Buch der Woche vom 19.8.2018

Maria Cecilia Barbetta: Nachtleuchten

Stand
AUTOR/IN
Christoph Schröder

María Cecilia Barbettas zweiter Roman „Nachtleuchten“ ist ein vielschichtiges Buch, das die politisch aufgewühlte Situation in Argentinien im Jahr 1974 im Mikrokosmos des Stadtviertels Ballester in Buenos Aires zu spiegeln versucht.

Es bröckelt und knistert überall in dem Text, der weniger von einem kontinuierlichen Plot als von der Figurenzeichnung und der ornamental ausgeschmückten, von Windungen und Sprachspielen durchsetzten Sprache lebt.

Für ihren Roman „Änderungsschneiderei Los Milagros“ wurde die Schriftstellerin María Cecilia Barbetta im Jahr 2008 mit dem aspekte-Literaturpreis für das beste deutschsprachige Debüt des Jahres ausgezeichnet. Barbetta wurde 1972 in Buenos Aires geboren, studierte in Argentinien Deutsch als Fremdsprache und lebt seit 1996 in Berlin. Nun erscheint in diesen Tagen Barbettas zweiter Roman „Nachtleuchten“ – und ist bereits in der Longlist des Deutschen Buchpreises 2018 zu finden.

Ein einziges Stadtviertel als Epizentrum der Handlung

Teresa Gianelli hat eine Mission. Sie will die Kirche zu den Menschen bringen. Sie will den kleinen Leuten, den einfachen Menschen in ihrem Stadtteil ein Symbol der christlichen Liebe in ihre Häuser tragen. Die tonnenschwere Statue der Kirchenpatronin, die sie zunächst ins Auge gefasst hat, erweist sich dabei allerdings als wenig praktikabel. Da fällt Teresas Blick auf ein Erinnerungsstück, das ihr Großvater ihr mitgebracht hat, als er seinerzeit sein neues Auto hatte segnen lassen. Und so wird die Idee der Wandermadonna geboren:

Hinter der schmuckhaften Sprache verbergen sich Spannungen

Die Madonna-Reproduktion ist eines der Leitmotive in María Cecilia Barbettas neuem Roman. Teresa trägt sie durch das Viertel und die Leser des Romans erhalten auf diese Weise Einblicke in die Lebenssituationen der Bewohner. Ballester heißt das Stadtviertel im Norden von Buenos Aires, in dem die Autorin selbst aufgewachsen ist und dem sie nun in „Nachtleuchten“ ihre literarische Referenz erweist. Es ist das Jahr 1974. Teresa ist zwölf Jahre alt und besucht das Mädcheninternat Santa Ana, in dem eine Riege von Nonnen ein strenges Regime führt.

Doch es bröckelt und knistert überall in diesem Buch, das weniger von einem kontinuierlichen Plot als von der Figurenzeichnung und der ornamental ausgeschmückten, von Windungen und Sprachspielen durchsetzten Sprache lebt, in der es geschrieben ist. Trotzdem, und das ist die Könnerschaft von María Cecilia Barbetta, schimmern unter dieser burlesken Erzähloberfläche die sozialen Spannungen im Viertel und die sich anbahnenden politischen Umbrüche in Argentinien jederzeit durch.

Zwischen Befreiungstheologie und Militärdiktatur

Zum Beispiel in Sachen Religion: Die Auswirkungen des Zweiten Vatikanischen Konzils und die daraus resultierenden Bestrebungen der Befreiungstheologie halten auch im konservativen Mädcheninternat in Person einer jungen Nonne Einzug. María, so heißt sie, saust nicht nur unerhörterweise auf einer Vespa durch die Straßen von Ballester; sie ist noch dazu überzeugt davon, dass die Kirche keinem politischen System, sondern einzig und allein den Interessen der Unterprivilegierten zu dienen habe.

In den Augen der Befreiungstheologen erscheint Jesus Christus als Kämpfer für soziale Gerechtigkeit:

Argentinien in einer Zeit des politischen Umbruchs

Es ist hilfreich für das Verständnis des Romans, die politische Situation in Argentinien in der Zeit der Handlung zumindest in groben Zügen zu kennen: Im September 1973 hat der aus dem Exil zurückgekehrte Juan Perón erneut die Präsidentschaft übernommen, doch ist er alt, politisch geschwächt und stirbt im Juli 1974. Seine Frau Isabel Martínez de Perón wird seine Nachfolgerin, doch hat sie weder das Charisma noch die strategische Intelligenz, um das Land in ruhigem Fahrwasser zu halten.

Im Hintergrund formieren sich bereits die Kräfte, die schließlich 1976, angefeuert von der wirtschaftlichen Krise des Landes, erneut eine Militärdiktatur errichten. Die historischen Umstände grundieren das Wimmelbild, das María Cecilia Barbetta vom Stadtteil Ballester und seinen Bewohnern zeichnet.

Ein Roman in drei, deutlich getrennten Teilen

„Nachtleuchten“ besteht aus drei Teilen. Der erste ist Teresa und dem Mädcheninternat gewidmet. Der zweite Teil setzt ein an Peróns Todestag und hat sein Zentrum in der Autowerkstatt „Autopia“. Die gehört Teresas Großvater Julio El Haddad, Sohn katholischer libanesischer Einwanderer. Seine Werkstatt ist, wie der Name es verspricht, nicht nur ein reiner Servicebetrieb, sondern auch eine Art von Stadtteiltreff, in dem sich Klatsch und Tratsch mit philosophischen Erörterungen und politischen Diskussionen vermischen. Hier entwirft María Cecilia Barbetta auch am deutlichsten das Porträt des Quartiers mit all seinen bunt zusammengewürfelten Bewohnern und deren Hoffnungen und gescheiterten oder auch erfüllten Aufstiegsträumen.

Barbetta reiht Geschichte an Geschichte. Das hat zur Folge, dass das Buch nicht so recht vom Fleck kommt, aber das ist ein ganz bewusst in Kauf genommenes Risiko. Denn das poetologische Programm, das hinter dieser Erzählstrategie steckt, formuliert einer von Don Julios Mechanikern; ein ambitionierter junger Mann, der gleichzeitig als Redakteur des „Ballester Lokalanzeigers“ fungiert:

Die Unübersichtlichkeit der Situation wird erzählerisch gespiegelt

Genau das tut auch María Cecilia Barbetta: Sie verschiebt Stück für Stück die Grenzen der Realität in einen halluzinatorischen Raum, in dem sich politische Verwirrung, Religion und Spiritismus zu einem schwer durchschaubaren Geflecht verbinden. Das ist ästhetisch konsequent, doch hat diese Kongruenz von Form und Inhalt, die im dritten Teil ins Extrem getrieben wird, auch negative Auswirkungen auf die Lesbarkeit des Romans.

Ein jugendlicher, genialischer Hobbydetektiv, der sich Sherlock Holmes zum Vorbild genommen hat, macht sich im Auftrag von Teresas Cousins daran, den spiritistischen Umtrieben im Viertel auf die Spur zu kommen. Die Sinnsuche im Übersinnlichen hat gerade nach dem Tod Peróns Hochkonjunktur:

„Nachtleuchten“ ist ein mehr als 500 Seiten starker Roman, den seine Autorin im letzten Drittel ganz bewusst zerfasern lässt und in jene Unübersichtlichkeit hineinführt, in der das ganze Land sich befindet. Das ist eine mutige, aber nicht unbedingt eine glückliche Entscheidung, die den Eindruck aufkommen lässt, dass „Nachtleuchten“ vielleicht doch um einige Seiten zu lang geraten ist.

Sie sorgt auch dafür, dass María Cecilia Barbetta in einem allerdings furios geschriebenen Schlusskapitel etwas gewaltsam die Fäden wieder verknüpfen muss, die sie zuvor ausgelegt hat. Und auch Teresas Wandermadonna darf dort ihre letzte Reise antreten.

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Christoph Schröder