Buch der Woche

Miku Sophie Kühmel - Kintsugi

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AUTOR/IN
Carolin Courts

Der Debütroman „Kintsugi“ von Miku Sophie Kühmel überzeugt durch eine dichte, im Hauptteil gut erzählte Geschichte und eine eigentümlich sinnliche Nachdenklichkeit. Kintsugi“ ist ein Buch über die Sehnsucht, über die vielen Spielarten der Liebe und über das ewige Rätsel, das menschliche Beziehungen bleiben – egal, wie lange sie schon dauern und welcher Natur sie sind.

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Das Titelwort kommt aus dem Japanischen. Kintsugi ist eine traditionelle Technik in Japan, die Scherben von zu Bruch gegangener Keramik mit Gold neu zusammenzufügen. Kintsugi feiert die Brüche, statt sie zu verstecken. Und die 1982 in Gotha geborene Autorin macht aus diesem Handwerk nun ein poetisches Programm.

Warum wählt die 27-jährige Debütantin dieses Thema?

Eigentlich – und das weiß jeder, der sich analytisch mit Literatur beschäftigt – haben einem die Motive von Schriftstellern zunächst mal egal zu sein. Warum jemand das schreibt, was er schreibt, tritt zurück hinter die Frage, wie gut er schreibt, was er schreibt.

Autorin Miku Sophie Kühmel (Foto: Andreas Labes | S. Fischer Verlag)
Autorin Miku Sophie Kühmel

Und doch kommt man nicht umhin, sich Gedanken über Miku Sophie Kühmel zu machen. Was bringt eine 27-jährige Debütantin dazu, ein schwules Langzeitpaar in den Vierzigern ins Zentrum ihrer Geschichte zu rücken? Und welche Ambition muss sie treiben, dann auch noch aus der Perspektive der Männer zu schreiben, Derbheiten demonstrativ inklusive?

Ich denke an den Morgen, nachdem ich das erste Mal in Reiks versifften Studentenzimmer übernachtet hatte. Im schummrigen Licht war das alles noch romantisch gewesen, Kerzen in Weinflaschen und Kohlestifte und zerknülltes Papier. Ich hatte mich sogar sehr gern auf dem Boden dieses Zimmerchens ficken lassen, mit dem Blick auf die nackte Glühbirne, die flackerte. Hatte allerdings auch nicht viel mitbekommen von dem, was uns umgab, weil ich nur den fiebrigen schwarzhaarigen Jungen wahrnahm, der über mir kniete, meine Beine über seinen Schultern, mit halboffenem Lächeln und eingerissenen Mundwinkeln.

So klingt Max, der spröde Archäologie-Professor. Sein Partner, Reik, ist ein berühmter, exzentrischer Künstler.

Matte Stimmung beim Beziehungsjubiläum

Zu Beginn der Geschichte treffen sie gerade in ihrem Ferienhaus in der Mark Brandenburg ein, es ist tiefer Winter und vorgeblich soll 20-jähriges Beziehungsjubiläum gefeiert werden, aber so recht will keine Stimmung aufkommen.

In das komplizierte, wenn auch eingeübte Miteinander der Männer versenkt sich Miku Sophie Kühmel, indem sie erst mit der Stimme des Einen, dann mit der des Anderen erzählt.

Die Figuren sind glaubwürdig geschildert

Die Anmaßung, die man darin sehen könnte, relativiert sich aber rasch. Denn die Anverwandlung ist durchaus überzeugend, die Figuren sind dreidimensional und glaubwürdig in ihrer Emotionalität und Fehlbarkeit. Man hat längst aufgehört, über die junge Schriftstellerin und ihre Herangehensweise nachzudenken, als sie, fast kokett, einer ihrer Figuren dies in den Mund legt:

Ich kann mir die meiste Zeit ganz gut denken, was Leute empfinden und wie. Ich schließe dann nur die Augen und atme einmal durch, und dann steht vor mir alles da, so, wie sie es sehen, ich stecke in ihrer Haut. Ein bisschen Bildkrisseln bleibt natürlich, dass man nie ganz genau weiß, was wirklich passiert und vor allem was passiert ist. Die Balance ist, was zählt. Das alles ist kein Hexenwerk, wenn man Ruhe hat und wach ist.

Der dritte Mann: Tonio

Es ist ein dritter Mann, der das sagt. Denn es bleibt im Roman nicht bei Max und Reik. Da sind auch noch Tonio und seine gerade erwachsen gewordene Tochter Pega, die an jenem Wochenende mitfeiern wollen.

Insgesamt gibt es dadurch vier einander ablösende Ich-Perspektiven – plus einige kurze dialogische Zwischenspiele.

Der Perspektivwechsel entfaltet eine starke Wirkung

Formal ist der Roman damit interessant aufgestellt. Auch inhaltlich entwickelt sich schon nach kurzer Zeit eine bestrickende Wirkung, die wesentlich auf dem Perspektivwechsel beruht. Jedes neue Kapitel leuchtet die Schatten der vorangegangen aus.

Man erfährt, dass Reik und Tonio vor Urzeiten etwas miteinander gehabt haben – bis Max kam. Man begreift, dass Reik und Max Pega von ganzem Herzen lieben, und dass gerade darin erhebliche Sprengkraft liegt.

Natürlich weiß ich mittlerweile, dass Tonio etwas geschafft hat, was ich seit Jahrzehnten mit Leinwänden und Modelliermasse und Speckstein und Schweißerarbeit imitiere. Im Vergleich zu der sagenhaften jungen Frau, die hier gerade neben mir her geht, sind all meine Figuren und Bilder nur Pappkameraden, Bemühungen, bedeutungslos. Ich beneide ihn um das Endergebnis und um die Gewissheit, einen großen Teil seines Lebens etwas so Wunderbarem gewidmet zu haben. Dass ich ein passabler Vater wäre, ist ein unbestimmtes, aber hartnäckiges Gefühl. Dass da etwas Neues lauert, in dem ich gut sein könnte. Das sich richtig anfühlen würde und eine große Aufgabe wäre. Und mit jedem Jahr füllt sich eine Sanduhr kurz unterhalb meiner Brust ein bisschen weiter, und der Wunsch wächst beharrlich. Und ich weiß, dass Max nicht mitzieht, bei dieser Geschichte.

Ein Buch über die vielen Spielarten der Liebe

„Kintsugi“ ist ein Buch über die Sehnsucht, über die vielen Spielarten der Liebe und über das ewige Rätsel, das menschliche Beziehungen bleiben – egal, wie lange sie schon dauern und welcher Natur sie sind.

Goldene Bruchstellen

Das Titelwort kommt aus dem Japanischen. Kintsugi ist eine traditionelle Technik, die Scherben von zu Bruch gegangener Keramik mit Gold neu zusammenzufügen. Das passt schon vordergründig zu diesem Text, weil Max, der Archäologe, leidenschaftlicher Teetrinker und Japan-Verehrer ist und einmal, in einem seltenen, unbeherrschten Moment, eine kostbare Trinkschale zerdeppert.

Auch symbolisch ist der Titel treffend. Die Kintsugi-Methode feiert die Brüche, statt sie zu verstecken. Sie kultiviert den Gedanken, dass gerade dort ein Wert stecken kann, wo zuvor eine Verletzung gewesen ist.

Niemals hat sich Pega nach ihrer Mutter erkundigt. Hunderte Male bin ich mit ihr in Männerumkleiden gegangen im Schwimmbad, hab sie als einziger Vater aus dem Kindergarten geholt und aus der Schule. Für mich war es manchmal wahnsinnig schwer. Nicht nur, der Einzige bei allem zu sein. Sondern überhaupt, dieses unermüdlich wachsende kleine Wesen, das heute nicht mehr in die nagelneuen Socken von gestern passen wollte. Das fortwährend meiner Mutter davonlief, um mich nachts in der Bar „zu besuchen“, in der es mich wähnte. Dabei putzte ich die Hälfte der Zeit Bürogebäude. Erst bei Max und Reik blieb sie dann artig im Bett und wartete. Erst als sie bei ihnen schlafen durfte, wurde sie weniger krank, ihre Träume besser. Erst dann verfolgte mich nicht mehr die Frage, ob ich es als Frau leichter mit ihr hätte, weil ich sah, dass es um Sicherheit ging und um Vertrauen und Kartoffelbrei und nicht um Genitalien.

Miku Sophie Kühmel hat viel vor – etwas zu viel

Miku Sophie Kühmel hat spürbar viel vor mit ihrem Erstling. Thematisch wirbt sie für Toleranz gegenüber nicht-mainstream-fähigen Lebensmodellen und für den Mut zum Scheitern.

Literarisch knüpft sie an Vorbilder an, die zu groß sind, um sie ernsthaft mit diesem Debut vergleichen zu wollen. Goethes „Wahlverwandtschaften“, um nur eines zu nennen. Auch sprachlich ist ihr Anspruch unübersehbar. Das alles überlädt den Text streckenweise, so manche Passage zieht sich.

An meinen Socken hängen immer noch Krümel. Zerstäubte Blüten und Blätter, wie auch immer sie heute Morgen im Garten in meine Schuhe geraten sind. Es muss passiert sein, als wir die Chrysantheme beschnitten haben. Dabei lässt man gerade die Winterchrysanthemen eigentlich stehen. Lässt sie allein mit der Kälte fertigwerden. Das einzig Tröstliche sind die gestreuten Funken, Schneeglöckchen und Märzenbecher, Waldgeister, die sich kichernd in Scharen über die Wiesen verteilen und sich nur bewegen, wenn man nicht hinsieht, und den Chrysanthemen eine lange Nase zeigen.

Ein Debut, das dennoch Eindruck macht

Das perfekte Debut ist bisher nicht geschrieben. Dieses hier weiß dennoch Eindruck zu machen: durch eine dichte, im Hauptteil gut erzählte Geschichte und eine eigentümlich sinnliche Nachdenklichkeit.

Im besten Fall zeigt so ein erster Roman das Potenzial einer neuen Stimme. Gehen wir mal davon aus, dass von Miku Sophie Kühmel noch allerhand kommen wird.

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Carolin Courts