Buchkritik

Arnold Stadler – Irgendwo. Aber am Meer

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AUTOR/IN
Carsten Otte

Müssen Schriftsteller sich zur Klimakrise äußern? Was tun, wenn das Publikum lieber die Aktivistin Greta Thunberg anhimmeln möchte als mit einem nicht mehr jugendlichen Autor über Literatur zu diskutieren? Am besten ans Meer verreisen, sagt der Ich-Erzähler in Arnold Stadlers neuem Roman, der sich für eine griechische Insel mit Blick auf Ithaka entscheidet, der Heimat von Odysseus. In Gedanken an den Vater aller Irrwege gelingt dann auch ein neues Buch: „Irgendwo. Aber am Meer“ ist eine ernst-komische Selbsterkundung und ein Meisterstück der deutschsprachigen Sehnsuchtsliteratur.

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Wie hat man sie doch vermisst, diese eigenwillig musikalische Stimme in der deutschsprachigen Literatur, diesen sehnsüchtigen Ton, eine Prosa, die sich um das, was man Plot nennt, nicht schert, die aber trotzdem beziehungsweise gerade deshalb so viel zu erzählen hat! Gemeint sind die Texte von Arnold Stadler, seine grandiosen Romane "Mein Hund, meine Sau, mein Leben", "Ein hinreißender Schrotthändler", "Der Tod und ich, wir zwei" oder "Rauschzeit".

Grandios sind Stadlers artistische Satzgirlanden, weil sie das Raue und zugleich das Schöne in der Natur und im Leben der Menschen feiern, weil sie das gebrochene Pathos pflegen und gleichzeitig die intellektuelle Pointe, weil sie den emotionalen und geographischen Mikrokosmos der Protagonisten ausloten, und sich für das interessieren, was man das Erhabene nennen könnte. Gewiss, das klingt nach einer unzeitgemäßen Schreibhaltung, aber sie ist eben gleichzeitig auch enorm aktuell, wie Stadlers neuer Roman "Irgendwo. Aber am Meer" beweist: Ein Schriftsteller wird darin zu einer Veranstaltung auf Schloss Sayn eingeladen, aber selbst hier, in der Westerwälder Provinz geht es um die Weltpolitik, wie der Ich-Erzähler schon bald begreift:

"Ich hatte den Verdacht, dass sie auf Schloss Sayn eigentlich Greta Thunberg hatten hören wollen und mir übelnahmen, dass ich nicht Greta Thunberg war, sondern ein weißer Alter, der für alles verantwortlich gemacht werden konnte. Und sie selbst nahmen es sich auch übel, dass sie zu mir und nicht zu Greta Thunberg gereist waren."

Der Schriftsteller hatte fälschlicherweise angenommen, wenn schon nicht allzu lang aus seinen Büchern lesen, doch zumindest über sie sprechen zu können, etwa aus "Am siebten Tag flog ich zurück. Meine Reise zum Kilimandscharo". Ja, bei Arnold Stadler sind die Übergänge von einem Werk zum nächsten fließend, von biographischer Erkundung und deren Fiktionalisierung ohnehin. Auf jeden Fall kommt es auf Schloss Sayn zum Eklat, als das Publikumsgespräch beginnt.

"Da wurde ich zur Rede gestellt, warum ich nichts zu den ertrinkenden Flüchtlingen zu sagen hätte. Und nichts zur Klimakatastrophe. Ich konnte nur sagen. Es steht in meinem Buch."

Der Ich-Erzähler redet sich um Kopf und Kragen, wie man es lustigerweise auch von Arnold Stadler kennt, der im Gespräch gerne mal abschweift, diese literarisch-rhetorische Kunst nahezu perfektioniert hat. Das Publikum aber quittiert die sowohl persönlichen als auch theoretischen, jedenfalls immer abwägenden Gedankengänge mit dem resoluten Urteil: "Altmänner-Geschwätz". Der Schriftsteller ist nur froh, schon bald wieder nach Hause zu fahren, wobei ihm zunehmend unklar wird, wo dieses Daheim überhaupt liegen könnte. Auch seine Heimatregion sei "verwechselbar" geworden, sehe aus wie alle anderen zersiedelten Gegenden. Auf der Rückreise ins Oberschwäbische bleibt dem Literat also wieder nur die Literatur, er befragt sich und seine ästhetischen Ansprüche, die alles andere als unethisch sind, die aber aus der Zeit gefallen zu sein scheinen.

"War Schreiben eine Bluterkrankheit? Fehlte das Gerinnungselement des Vergessens? War Schreiben nicht das Übersetzen von Schmerz in Sprache? War der Schmerz meine Quelle? Ja, nun sah ich etwas, das einem Rückspiegelschmerz glich. Und einem Rückspiegelglück. Ich sah schon wieder Ithaka am Meer liegen."

So markiert die gescheiterte Autorenveranstaltung den Aufbruch zu einer neuen Reise, und zwar auf die griechische Insel Lefkada, von der aus man Ithaka, die Heimat von Odysseus sehen kann. Das ist natürlich kein Zufall, dass sich der strauchelnde Schriftsteller mit dem Vater aller Irrwege verbunden fühlt. Dort, im Hotel mit Ithaka-Blick und Infinity-Pool, widmet sich der Erzähler dann wieder seinen Grundthemen, die von allen Spielarten der Sehnsucht handeln, vom Fernweh bis zum Heimweh, vor allem aber von der Liebe zum Meer.

"… es gab Menschen, die so aussahen, als wären sie noch nie ins Meer verliebt gewesen, ganz bedingungslos. Als hätten sie am Meer immer nur braun werden wollen, um zu Hause aufzutrumpfen. Sie sahen so aus, als hätten sie das Aufatmen und die Sehnsucht, dass jetzt für die kommenden Wochen ihr Leben einen Sinn hätte, am Meer, noch nie erfahren."

Arnold Stadler liebt solche – wie er sie nennt – "Vogelscheuchensätze", erschreckend schöne Formulierungen, die er über seine Bücher hinweg wieder und wieder variiert. "Was ist Glück? Nachher weiß man es" – so begann Stadlers Roman "Rauschzeit". Im Meer-Buch gibt es eine winzige, aber entscheidende Tempus-Verschiebung: "Was war Glück. Nun wusste ich es."

Wer sich einmal auf Stadlers Wortoper und ihre im alemannischen Sprachraum verwurzelten Motive eingelassen hat, wird nicht mehr von ihr loskommen, wird dem Autor auch dieses Mal mit Johann Peter Hebel nach Tuttlingen, der "Welthauptstadt von Kannitverstan" folgen, ins Griechenland Homers und wieder zurück zu Heideggers Holzwegen und den Schmutzfinken und Angsthasen eines Jean Paul, Wortkreationen, die auch Stadler liebt und weiterentwickelt. Nach Passagen im hohen Ton folgen kurios-witzige Absätze, etwa wenn sich der Erzähler wundert, nur noch sogenannte "altersgerechte" Werbemails mit Angeboten zu Treppenliften und Sterbegeld-Versicherungen zu erhalten.

Es wäre aber falsch, Arnold Stadler nur als Satzartisten und geistreichen Flaneur im eigenen Literaturkosmos zu lesen. Dieser Autor schaltet auch in den Angriffsmodus, wenn es um die frühere und gegenwärtige Kriegsbegeisterung geht, um Waffenhersteller, die ausgerechnet in Stadlers Heimatgefilden Maschinenpistolen und andere Mordwerkzeuge produzieren. "Irgendwo. Aber am Meer" ist eben, anders als ein Westerwälder Publikum vielleicht denken mag, keine Altherrenliteratur. Stadlers Prosa hat über die Jahre weder an Aktualität noch an Kraft verloren, sie gehört vielmehr zum Schönsten und Schlausten, was zeitgenössische Literatur in deutscher Sprache zu bieten hat.

Buchkritik Arnold Stadler - Am siebten Tag flog ich zurück. Meine Reise zum Kilimandscharo

Für eine Wochenzeitung reiste Arnold Stadler nach Afrika. Sein Bericht über die Reise geriet zum Roman. Darin geht es um Politik, Geschichte Exotik und immer auch um den Autor selbst.

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