Buchkritik

David Graeber: Bullshit-Jobs

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AUTOR/IN
Philine Sauvageot

Welche Arbeit ist sinnvoll, über das Geld verdienen hinaus? Welchen Wert hat sie für den Einzelnen und für die Gesellschaft? David Graeber, US-amerikanischer Ethnologe, Antikapitalist und Vordenker der Occupy-Bewegung, ist bekennender Anarchist. Was er über Jobs denkt, mag absehbar sein, ist aber trotzdem erkenntnisreich, findet Philine Sauvageot.

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Der Unterschied zwischen "Bullshit-Job" und "Scheißjob"

Die meisten Jobs haben sinnlose oder idiotische Elemente. Ein reiner „Bullshit Job“ ist nach der Definition von David Graeber „eine Beschäftigungsform, die so völlig sinnlos, unnötig oder schädlich ist, dass selbst der Arbeitnehmer ihre Existenz nicht rechtfertigen kann.“

Graeber macht den Bullshit-Job also am subjektiven Urteil fest: Wenn jemand am besten weiß, was die Arbeit zur Welt beiträgt, dann die Beschäftigten selbst. Mit „Bullshit-Jobs“ meint er nicht Jobs, die niemand machen will, sondern solche, die niemand braucht. Dazu zählt er: Lobbyisten, Finanzberater, Manager, Unternehmensanwälte, Stellen im öffentlichen Dienst und in der Privatwirtschaft, dort, wo Menschen vor lauter Bürokratie nicht zu echter Arbeit kommen.

Die Höhe der Bezahlung einer Arbeit und ihr Nutzen für die Gesellschaft

Bullshit Jobs sind oft gut bezahlt, bieten gute Arbeitsbedingungen - anders als die Kategorie, die Graeber „Scheißjobs“ nennt: damit meint er die wirklich sinnvolle Arbeit von Reinigungs- oder Pflegekräften etwa, die dafür nur nicht anerkannt werden: „Offensichtlich gilt in unserer Gesellschaft die Regel, dass eine Arbeit umso schlechter bezahlt wird, je offensichtlicher sie anderen Menschen nützt.“

In einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov sagte mehr als ein Drittel der Briten, ihre Arbeit leiste keinen sinnvollen Beitrag zur Welt. Eine Studie in den Niederlanden brachte ähnliche Zahlen. Graeber stützt seine Theorie aber vor allem auf Leserbriefe. 2013 schreibt er einen Aufsatz, der weltweit in Zeitungen abgedruckt wird. Hunderte Menschen bitten ihn daraufhin um Rat oder teilen ihm mit, sie hätten ihre Jobs nun für etwas Sinnvolleres aufgegeben. 250 Briefe hat Graeber ausgewertet.

„Die Ergebnisse reichen vielleicht für die meisten Formen einer statistischen Analyse nicht aus, aber nach meinen Feststellungen waren sie eine reichhaltige Quelle für qualitative Analysen. Das gilt insbesondere für die vielen Fälle, in denen ich weitere Fragen stellen konnte und manchmal sogar lange Gespräche mit den Informanten führte.“

Ohne sinnvolle Wirkungen, hört der Mensch auf zu existieren

Diese Einschätzungen und Gefühle sind natürlich nicht repräsentativ. Graeber wolle keine fundierte Theorie begründen. Sondern bewusst machen, wie Menschen unter ihren Bullshit Jobs leiden. „Das ist ein Angriff auf das Selbstwertgefühl eines Menschen. Ein Mensch, der in der Welt keine sinnvollen Wirkungen erzielen kann, hört auf zu existieren.“

Der Konflikt zwischen denen, die sinnvolle Arbeit leisten und denen, die sie dafür verachten

Spannend ist, wie sich Graeber diesen elendigen Zustand erklärt: Es gebe einen unterschwelligen Konflikt zwischen denen, die sinnvolle Arbeit leisten, und denen, die sie dafür verachten. „Schon die Tatsache, dass die U-Bahn-Angestellten London lahmlegen können, ist der Beweis, dass ihre Arbeit notwendig ist, aber genau das ärgert die Menschen. Noch deutlicher wird das Prinzip in den Vereinigten Staaten: Dort ist es den Republikanern gelungen, Ressentiments gegen Lehrer und die Arbeiter der Autofirmen zu wecken - interessanterweise nicht gegen die Schulverwaltungsbeamten oder Automanager, die eigentlich die Probleme verursachen.“

Die einen mit nützlicher Arbeit, dafür aber unterbezahlt, missachten wiederum die anderen für ihr gutes Leben. „Das grundlegende Gefühl ist offenbar 'Wie kann diese Person zu behaupten wagen, sie sei besser als ich?'“

Unsere Zivilisation basiert auf Arbeit als Selbstzweck

Mit dieser feindlichen Stimmung erklärt Graeber, warum es überhaupt Bullshit Jobs gibt. Und genau sie führten dazu, dass wir in den westlichen Gesellschaften immer mehr arbeiten - trotz technischen Fortschritts, obwohl der Ökonom John Maynard Keynes 1930 für das Ende des letzten Jahrhunderts einen Arbeitstag von drei bis vier Stunden vorausgesagt hatte.

„An dem, was wir aus uns gemacht haben, ist irgendetwas vollkommen falsch. Wir sind zu einer Zivilisation geworden, die auf Arbeit basiert – und zwar nicht einmal auf „produktiver Arbeit“, sondern auf Arbeit als Selbstzweck und Sinnträger.“

Auch wenn das subjektive Empfinden seine Grenzen hat, Graeber spricht offensichtlich vielen Menschen aus dem Herzen.

Am 2.9.2020 ist der Soziologe David Graeber gestorben

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Philine Sauvageot