Thema Migration bei der Manifesta No 12

Migration als Kunstdrama in Palermo

Stand

Am 19.7.2018 von Karl Hoffmann

Die Kunstbiennale Manifesta in Palermo zeigt die Erde als Garten, in dem sich Datenströme ebenso ausbreiten wie Pflanzen - oder aber wie Menschen, die in jeden Winkel vordringen und dabei Grenzen überschreiten, nicht anders als Natur, Daten oder Waren. Migration ist das Thema der Zeit und auch auf der Manifesta überraschend präsent.

Schock in Video-Permanenz - verschleppte Jesidinnen berichten

In einem leeren, halb verwitterten Raum steht ein großer Bildschirm. Frauen in bunten Gewändern erzählen in einer völlig fremden Sprache. Die Untertitel vermitteln bedrückende Inhalte. Flucht, Vertreibung, Gewalt, Traditionen, Vorschriften, Gesetze. Es sind geflüchtete jesidische Frauen aus dem Nordirak.

Man hat von ihnen gehört, als sie verschleppt wurden von Gewalttätern des IS, meist nur sekundenlang in Nachrichtensendungen. In dem alten, halbverwitterten Palazzo Forcella de Seta sprechen sie im Video des türkischen Künstlers Erkan Özgen 16 Minuten und 24 Sekunden lang.

Jesidische Frau auf einem Bildschirm (Foto: SWR, SWR - Foto: Karl Hoffmann)
Atemloser Bericht des Grauens: Jesidische Frauen schildern im Video des türkischen Künstlers Erkan Özgen ihre Leidenserfahrungen.

Schreckensberichte - wie aus einer anderen Welt

Das ist aufwändig für den Besucher, aber auch hilfreich, sagt Anna Finocchiaro aus Palermo: „In diesem Video hat man den Eindruck, dass diese Jesiden-Frauen aus einer anderen Epoche stammen, aus einer anderen Welt. Das gibt zu denken: Auf dem gleichen Planeten existieren zur gleichen Zeit unterschiedliche Epochen nebeneinander.“

Tod auf dem Mittelmeer in Computer-Farbspuren

Im Nebenraum wird eine Dokumentation der in England tätigen Forensischen Architekten zum graphischen Kunstwerk. Vektoren in verschiedenen Farben breiten sich auf dem Schirm aus, verharren an kleinen Pfeilen, umkreisen sie, entfernen sich, hinterlassen Farbspuren, die sich ineinander verschlingen.

Das Team von „Forensic Ocenography“ arbeitet seit sieben Jahren am Thema „Tod durch Rettung im Mittelmeer“, sammelt Daten, schafft Wahrheiten, die in den ideologisch geprägten Diskussionen um die Frage der Rettung von Migranten im Mittelmeer längst untergegangen sind.

Videoscreen: Visualisierte Analysen als graphisches Kunstwerk: "Forensic Oceanography" dokumentiert den Tod auf dem Mittelmeer. (Foto: SWR, SWR - Foto: Karl Hoffmann)
Visualisierte Analysen als graphisches Kunstwerk: "Forensic Oceanography" dokumentiert den Tod auf dem Mittelmeer anhand von Wind- und Meeresströmungen, Handyvideos und Daten aus Funksprechverkehr.

Entlarvter Mythos: Hilfsorganisationen kooperieren mit Schleppern

Da wird minutiös aufgearbeitet, was sich im vergangenen Jahr tatsächlich abgespielt hat, als italienische Behörden und Politiker begannen, die Hilfsorganisation der Komplizenschaft mit libyschen Menschenhändlern zu bezichtigen. Sie hätten ihnen freiwillig leere Flüchtlingsboote zurückgegeben.

Lorenzo Pezzani vom Goldsmith College in London ist einer der Autoren des Videos, das die Anklagen als falsch entlarvt: „Wenn man die Bilder von der Aktion genau analysiert, stellt man fest, dass das Flüchtlingsboot nach Nordwesten geschleppt wurde und nicht nach Süden, wie die Staatsanwaltschaft behauptet. Unsere Analyse basiert auf den Daten, die wir finden konnten. Wir haben einfach die Belege dafür.“

Aus Fluchtanalyse wird ein graphisches Kunstwerk

Das Vergleichen von Wind- und Meeresströmungen, von Handyvideos und Funksprechverkehr wird zum graphischen Kunstwerk, das eine andere als die offizielle Wahrheit darstellt.

Das Ergebnis ist Kunst mit einem gesellschaftspolitischem Anspruch, so der forensische Architekt Eyal Weizman. „Uns genügt es nicht, unabhängige Untersuchungen von anderen zu fordern. Wir glauben, dass wir heute mit den Technologien, die uns zur Verfügung stehen und mit all dem Material aus Konfliktzonen, wo Menschenrechtsverletzungen stattfinden genügend Beweise sammeln können, um selbst solche Untersuchungen vorzunehmen.“

Tragödie auf der Autobahn

Es sind Untersuchungen von Tragödien. In einem anderen Video umkreist eine Kamera in unheimlicher Langsamkeit ein völlig leeres Autobahnstück in Österreich.

Im Zentrum die roten Markierungen der Polizei auf dem Seitenstreifen, wo offenbar ein Fahrzeug stand.

Eine virtuelle Rekonstruktion des irischen Fotografen John Gerrard genau an der Stelle, an der zwei Tage zuvor ein Kleintransporter mit 71 erstickten Migranten aufgefunden worden war.

Der bröckelnde Palazzo als Bild der Welt

Beeindruckende Darstellungen der Dramen unserer Zeit.

In einem einst herrlichen Palazzo von Palermo, der in seiner zerbröckelnden Pracht eine eigene Allegorie darstellt: die sich verändernde Welt, mit zunehmender Unsicherheit und der Neuordnung, auf den Trümmern einer vermeintlich heilen Welt, die nicht mehr existiert.

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SWR