Charlotte Isler hat den Holocaust überlebt. Mit 14 Jahren floh sie vor NS-Regime und Judenhass in die USA. Vorher war ihre Heimat Stuttgart. In SWR1 Neuanfang erinnert sie sich. (Foto: Charlotte Isler)

Charlotte überlebte Holocaust: So erinnert sie sich an ihre Kindheit unter den Nazis

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Dorothee Zeißig

Charlotte Isler überlebte den Holocaust. Mit 14 Jahren floh sie nach der Pogromnacht aus Stuttgart vor Hitler und den Nazis. Im SWR1 Neuanfang erinnert sie sich.

Ich wünschte manchmal, Hitler könnte von der Hölle aus, wo er hoffentlich ist, hier und da mal sehen, was aus uns geworden ist. Das ist mir eine Genugtuung, dass trotzdem was aus uns geworden ist und aus denen, die überlebt haben.

Charlotte Isler ist Medizinjournalistin und Buchautorin, 1924 in Stuttgart in eine jüdischen Familie hineingeboren. Sie hat das NS-Regime, den Judenhass, den Holocaust überlebt. Ihre Großmutter Sigmunde Friedmann ließen die Nazis im Frühling 1944 KZ Theresienstadt verhungern, Onkel, Tante und Cousin und viele andere Verwandte und Freunde der Familien Nussbaum und Friedmann kamen in der NS-Zeit ums Leben. Verschleppt. Verhungert. Ermordet.

Heute sagt Charlotte, dass ihr Leben gut und gelungen sei. Den Nazis zum Trotz. Ihr Lebensmotto: "Tun, was man tun muss". Ihr Appell:

Man muss gut auf die Demokratie achtgeben!

Charlotte erlebt Machtergreifung und NS-Regime

Viele von Charlottes Kindheitserinnerungen klingen unbeschwert. Die Nazis haben es nicht geschafft, die inneren Bilder kaputtzumachen. 1932 sind die Comedian Harmonists in Deutschland populär; man feiert und bejubelt die sechs Männer. Drei von ihnen sind Juden. So wie Charlotte, die acht Jahre alt ist und gar nicht weiß, was das eigentlich heißen soll: Jude zu sein. Ihr Leben im Stuttgarter Süden fühlt sich Anfang der 30er Jahre sorglos an. Familie Nussbaum, ihre Ursprungsfamilie, ist eine angesehene Unternehmerfamilie, sehr gebildet, sehr musikalisch.

Charlotte Isler mit ihrem Großvater. (Foto: Charlotte Isler)
Charlotte mit ihrem Großvater

Bei den Nussbaums war immer was los, erzählt Charlotte: Freunde, Nachbarn und Geschäftspartner gehen ein und aus: Man trifft sich zum Musizieren, turnt, geht Skifahren. Meistens mitten drin: Charlotte und ihr kleiner Bruder Ernst.

Als ich acht, neun Jahre alt war, wusste ich, dass ich jüdisch war. Was immer das bedeutet hatte. [...] Ich war ein sehr neugieriges Kind und ich hab immer "warum" gefragt. Und wenn es sich um Hitler und die Nazis handelte, dann hab ich nie richtig Antwort bekommen.

Charlotte schreibt Gedichte über Nazis und Hitler

Die Eltern wollen nicht darüber sprechen – zu gefährlich. Kinder reden bekanntlich viel und wissen nicht, was ein Geheimnis ist. Charlotte hätte jedem sofort mit Begeisterung die Antworten der Eltern erzählt.

Ich hab' beschlossen, ich ernenne mich jetzt zur Dichterin. [...] Für mich waren diese geheimnisvollen Nazis und dieser Hitler, die alle so schreckliche Sachen anrichten, von denen ich nicht wusste, was sie waren, am meisten interessant. Also fing ich an, über Hitler und die Nazis zu dichten. Und damit's auch jeder sieht, hab ich meine Gedicht schön überall 'rumliegen lassen.

Pogromnacht: Charlotte entkommt Völkermord

New York, 27. April 1939: Am Pier des Hafens in New York steht ein junges Mädchen und spielt mitten in der Nacht Geige. Es ist Charlotte. Heimatlos, geflüchtet aus Stuttgart. Was sie damals noch nicht weiß: Sie ist nur ganz knapp dem nationalsozialistischen Völkermord entgangen. Mehr als sechs Millionen europäische Juden und Jüdinnen werden sterben.

Charlottes Mutter hatte sich schon früh, als die Nazis mehr und mehr auf der Bildfläche erschienen, um ein Visum für Amerika bemüht. Ein Glücksfall, denn spätestens nach der Pogromnacht im November 1938 ist für die Nussbaums klar, dass es in Stuttgart keine Zukunft mehr für sie gibt: Der Familienbetrieb ist bereits arisiert, enteignet. Der Vater: arbeitslos.

Charlotte Isler mit ihrer Mama und ihrem kleinem Bruder beim Skifahren in Stuttgart. (Foto: Charlotte Isler)
Charlotte Isler mit ihrer Mama Claire und ihrem kleinem Bruder Ernst beim Skifahren in Stuttgart.

Charlotte erlebt die Entrechtung und Demütigung mit den Augen eines Kindes: Sie darf als Jüdin nicht mehr ins Schwimmbad, auch nicht mehr ins Theater oder die Oper. Der Geigenlehrer will sie nur noch heimlich unterrichten; Freunde der Familie kommen seltener und dann gar nicht mehr. Dann kommt der Morgen nach der Pogromnacht, Charlottes letzter Tag an der Charlotten-Realschule.

Wir wussten's ja nicht, dass nachts Kristallnacht war. Wir wohnten ja etwas außerhalb. [...] Ich bin am nächsten Morgen in die Schule gegangen wie immer und da hat die Lehrerin zu mir gesagt, ich müsste ins Büro vom Direktor. [...] Er saß da mit seiner Uniform und Hakenkreuz am Ärmel und hat gesagt: 'Geh zurück in dein Klassenzimmer, pack alles ein, geh nach Hause und komm nicht wieder.'

Charlottes Vater hatte großes Glück, er wurde nicht wie so viele andere nach Dachau ins KZ gebracht. Er wurde nach Hause geschickt, weil er ein Visum für die USA hatte und damit beweisen konnte, dass er Deutschland verlassen würde. Als Strafe dafür musste er eine "Reichsfluchtsteuer" zahlen: "So ziemlich alles, was man besaß, Wertsachen, Geld, Bankkonten", erinnert sich Charlotte.

Flucht vor dem Nationalsozialismus in die USA

Charlotte kann mit ihrer Mutter, dem Vater und ihrem Bruder Ernst 1939 in die USA emigrieren und bleibt dort. Die ersten Jahre sind schwer und kräftezehrend. Die Familie muss bei Null anfangen. Von den Nazis komplett beraubt, verarmt und traumatisiert kämpfen die Eltern um eine neue Existenz. Der Vater wird nie mehr richtig Fuß fassen – aber die Mutter! Sie schafft es später als Physiotherapeutin. Die Kinder kommen erst einmal zu Pflegeeltern, weil Wohnraum in den USA knapp und für vier Personen nicht zu bezahlen ist. Charlotte ist 14 Jahre alt – sie wird nie mehr mit Vater und Mutter zusammenleben.

Wenn man keine Wahl hat, gewöhnt man sich dran, ja. So war's damals.

"Stuttgart: Flucht und Wiederkehr" von Charlotte Isler

Charlotte hat ihre Lebensgeschichte aufgeschrieben: die Kindheit und Jugend in Stuttgart, die Flucht, der schwierige Start in den USA, ihre Ausbildung zur Krankenschwester und später der Wechsel in den Medizinjournalismus. Vorher noch die Heirat und dann die Kinder und langsam – ganz langsam –  das Gefühl, wieder eine Heimat zu finden.

Man kann weder jetzt noch jemals vergessen, was alles passiert war. Es ist real, es war schrecklich. Aber ich kann nicht hier sitzen und stundenlang Trauer fassen. Ich muss auch mein eigenes Leben leben.

Charlotte Isler hat den Holocaust überlebt. Mit 14 Jahren floh sie vor NS-Regime und Judenhass in die USA. Vorher war ihre Heimat Stuttgart. In SWR1 Neuanfang erinnert sie sich. (Foto: Charlotte Isler)

Ihr Buch "Stuttgart: Flucht und Wiederkehr" wurde vom Stadtarchiv Stuttgart herausgegeben und unter anderem im "Hotel Silber" vorgestellt. Dort war in der NS-Zeit die Gestapo-Zentrale für Württemberg und Hohenzollern; es sollte abgerissen werden. Charlotte kämpfte mit für den Erhalt, heute ist das "Hotel Silber" Forschungsort, Museum und Gedenkstätte im Großen. So wie die Stolpersteine im Kleinen, die vor vielen Stuttgarter Häusern im Boden eingelassen sind.

Stolpersteine und Erinnerungskultur

Die Botschaft der Stolpersteine: "Erinnert Euch!". Kleine, zehn auf zehn Zentimeter große Mahnmale vor Haustüren und Eingängen. "Hier wohnte ein Mensch, der unter den Nazis deportiert, ermordet oder in den Suizid getrieben wurde."

Ich finde irgendeine Erinnerung ist besser als gar keine. Aber wenn Leute die Meinung haben, sie wollen sich nicht an die jüdische Bevölkerung erinnern, dann wird nichts ihre Meinung ändern. Ob das jetzt Stolpersteine oder Denkmale sind. Der Antisemitismus geht weiter. Leider.

Resigniert hat Charlotte nie. Sie ist mutig und tapfer geblieben – und hartnäckig, sagt sie.

Hartnäckig musst du ab und zu auch sein. Ich bin nicht für Aufgeben, wenn man etwas wirklich will, was man haben sollte. Man lebt einfach von einem Tag zum andern. Und tut, was man tun soll. Oder will. Sehr einfach.

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