Grafitto in Stuttgart: "Stuttgart, ick liebe Dir!" Standardisierung, vereinheitliche Schreibung, gegenseitige Verständlichkeit und das Dialektkontinuum sind Merkmale zur Unterscheidung von Sprache und Dialekt (Foto: picture-alliance / Reportdienste, picture alliance / Zoonar | edpics)

Linguistik

Wann gilt ein Dialekt als eigenständige Sprache?

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Gábor Paál
Gábor Paál (Foto: SWR, Oliver Reuther)

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Sprachwissenschaft: keine scharfe Trennung zwischen "Dialekt" und "Sprache"

Für die meisten Deutschen ist klar: Sie sprechen grundsätzlich Deutsch, aber unter Umständen in einem bestimmten Dialekt: Schwäbisch, Sächsisch, Hessisch, Kölsch – was auch immer.

Genauso selbstverständlich ist, dass zum Beispiel Niederländisch mit dem Deutschen eng verwandt, aber eben eine andere Sprache ist.

Interessant sind deshalb die Graubereiche dazwischen. Wenn wir in Norddeutschland bleiben, gilt auch das Niederdeutsche oder Plattdeutsche als eigene Sprache, die in Hamburg sogar als alternative Amtssprache neben dem Hochdeutschen akzeptiert ist.

Das Schwyzerdütsch dagegen am anderen Ende des deutschen Sprachraums wird in der Regel nicht als eigenständige Sprache betrachtet, auch wenn es z.B. in vielen Sendungen des Schweizer Rundfunks standardmäßig gesprochen wird und gleichzeitig ja auch in Aussprache, Wörtern etc. so weit weg sind vom Hochdeutschen, dass es viele Deutsche kaum verstehen können.

In der Sprachwissenschaft gibt es aber keine ganz scharfe Definition für Sprache oder Dialekt, sondern eher verschiedene Merkmale und Kriterien.

1. Merkmal einer Sprache: Standardisierung

Eins der Kriterien ist die Frage der Standardisierung. Es gibt Hochdeutsch als standardisiertes Deutsch, aber es gibt in der gesprochenen Sprache der Schweiz kein vereinheitlichtes „Hoch-Schwyzerdütsch“. Schweizer Zeitungen und Behörden schreiben Hochdeutsch mit lediglich ein paar kleineren Abweichungen in der Rechtschreibung.

2. Merkmal einer Sprache: vereinheitlichte Schreibung

Eine vereinheitlichte Schreibung ist das zweite Merkmal für eine eigenständige Sprache. Das gibt es bei Dialekten nicht. Es wird natürlich im Volksschrifttum, gerade auch in der Lyrik, im Dialekt geschrieben. Das folgt aber keiner einheitlichen Vorgabe, sondern ist im Wesentlichen "Schreiben nach Gehör". Und da sich Dialekte manchmal schon von einem Dorf zum nächsten leicht verändern, gibt es keine geregelte badische, pfälzische oder bayerische Dialekt-Schreibweise. Man muss aber sagen: Das gab es bis zur Frühen Neuzeit auch nicht für die deutsche Sprache.

3. Merkmal der Sprache: gegenseitige Verständlichkeit

So gesehen gab es bis ins Mittelalter sowieso nur Dialekte. Aber das stimmt dann doch nicht ganz, denn es gibt ein weiteres Kriterium für Sprache: die gegenseitige Verständlichkeit. Das ist auf den ersten Blick ein sehr wackliges Kriterium, weil das extrem subjektiv ist.

Wenn eine Kölnerin und ein Oberbayer ihren Dialekt richtig breit sprechen, verstehen sie sich nicht unbedingt, auch wenn es irgendwie Deutsch ist. Ein Friese und eine Holländerin können sich aber unter Umständen sehr wohl verstehen, ebenso wie eine Italienerin und ein Spanier, obwohl sie verschiedene Sprachen sprechen. Worauf es aber ankommt ist nicht, dass sich alle Sprecher einer Sprache gegenseitig verstehen, sondern dass es im Sprachraum keine scharfen Grenzen gibt. Friesen und Schweizer mögen sich im Extremfall nicht verstehen, aber zwischen beiden Dialekträumen verlaufen alle Grenzen fließend.

Dialektkontinuum: Dialekte gehen fließend ineinander über

In der Sprachforschung spricht man auch von Dialektkontinuum. Das heißt: Wenn man von Mecklenburg ins österreichische Burgenland wandern würde, würde man von Ort zu Ort kaum einen Sprachunterschied bemerken, denn die Dialekte verändern sich kontinuierlich über die lange Strecke. Man könnte sogar in allen Orten eine amtliche Bescheinigung vorlegen, die nicht übersetzt werden müsste. Anders, wenn man über die Grenze nach Polen oder Belgien läuft – hier sind die Staatsgrenzen zugleich Sprachgrenzen. Und auch zwischen Platt- und Hochdeutsch gibt es keine Dialektkontinuität. Man spricht entweder Platt oder den ostfriesischen Dialekt des Hochdeutschen. Aber es gibt keinen fließenden Übergang. Man kann nicht nur ein bisschen plätteln, so wie man ein bisschen schwäbeln kann.

Was denn nun: Sprache oder Dialekt?

Ob etwas nur Dialekt oder schon Sprache ist, entscheidet sich also vor allem an diesen beiden Punkten: Gibt es ein Kontinuum von einem Dialekt zu einem anderen? Dann würde man beide Dialekte einer gemeinsamen Sprache zuordnen. Und erst recht dann, wenn sich beide Dialektgruppen über eine von beiden akzeptierte, gemeinsame Standardsprache verständigen.

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