Porträt zum 100. Geburtstag

Sir Neville Marriner: Transparenz als musikalisches Ideal

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Christoph Vratz
Christoph Vratz (Foto: Pressestelle, Christoph Vratz)

Sein Musiklehrer behauptete einmal: „Der Junge kam mit der Geige in der Hand zur Welt.“ Tatsächlich hat Neville Marriner seine musikalische Laufbahn als Geiger begonnen, doch bekannt geworden ist er als Dirigent eines Orchesters, dessen erste Proben in Marriners Wohnzimmer stattfanden: der Academy of St Martin in the Fields. Am 15. April vor hundert Jahren wurde Marriner, der auch eine Zeitlang das damalige Radio-Sinfonieorchester Stuttgart geleitet hat, geboren.

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Am Pult war Sir Neville Marriner nie ein Mann der großen Worte. Gesten, Blicke, kurze, oft auch mit britischem Humor gefärbte Anweisungen – ein Mann, der um die Privilegien seines Berufes und die eigene Herkunft immer gewusst hat.

Marriners Vater war Bauarbeiter mit Leidenschaft für Musik

Über seine Eltern erzählt er, dass sie immer sehr viel und sehr hart gearbeitet haben. Sein Vater habe sein ganzes Leben lang gearbeitet, er sei Bauarbeiter gewesen, aber seine wirkliche Leidenschaft war die Musik. Als junger Mann lernte er das Klavierspiel.

Außerdem habe es im Norden Englands eine bedeutsame Chortradition gegeben. Jeder habe gesungen. Als Marriner ungefähr fünf Jahre alt war, brachte sein Vater ihm das Geigenspiel bei.

Sir Neville Marriner mit Anne-Sophie Mutter bei einer Probe  (Foto: SWR, Hugo Jehle)
Sir Neville Marriner mit Anne-Sophie Mutter bei einer Probe 1981. Mit fünf Jahren lerne er selbst das Geigenspiel.

Wenn Du Dirigent bist, freust Du Dich, in gewisser Weise Kontrolle über die Dinge zu haben. Als Orchestermusiker wiederum muss man alles sehr vorsichtig und akkurat beobachten.

Marriner als Geiger im im London Symphony Orchestra

Neville Marriner kommt am 15. April 1924 in Lincoln in Mittelengland zur Welt. Sein Studium in London muss er unterbrechen. Im Zweiten Weltkrieg wird er an die Front abkommandiert.

Verwundet kehrt Marriner zurück. Er nimmt seine Studien wieder auf, sammelt in einem Streichtrio und einem Quartett erste Erfahrungen in der Kammermusik. Doch sein Geld verdient er als Geiger, zuerst im Philharmonia Orchestra, dann – als Stimmführer der zweiten Geigen – im London Symphony Orchestra.

Zu seinen Erfahrungen dort derzählt er: „Der erste Dirigent, der mich überzeugte, dass es für ein großes Sinfonieorchester möglich ist, Musik im Stile des 18. Jahrhunderts zu machen – Mozart, Haydn, Beethoven – war Josef Krips. Er kam damals aus Wien nach London und veränderte den Klang des London Symphony Orchestra in kurzer Zeit.“

Die Academy of St Martin in the Fields wird geboren

In den späten 50er-Jahren lädt Marriner eines Tages mehrere Musiker zu sich nach Hause ein – zum zwanglosen Musizieren. „Es war aus reiner Freude“, sagt er. Einige von ihnen seien Kammermusiker, andere Solisten gewesen. Aber auf beiden Feldern war es sehr schwierig, eine erfolgreiche Karriere zu planen.

Ich war damals gerade zwei Jahre beim London Symphony, als drei oder vier Kollegen auf die Idee kamen, ein eigenes Orchester zu gründen – nur für Streicher.

Auf den ersten Programmen findet sich ausschließlich Barockmusik, doch die neu gegründete Academy of St Martin in the Fields erweitert ihr Repertoire immer weiter – und damit auch die Größe ihrer Besetzung. Im Fokus über viele Jahrzehnte steht die Musik von Wolfgang Amadeus Mozart.

Sir Neville Marriner und die Academy auf YouTube

Musik von Mozart im Mittelpunkt

Begünstigt durch den Erfolg der Filmmusik zum Mozart-Kinohit „Amadeus“ entwickelt sich die Academy zu einem der erfolgreichsten Orchester ihrer Zeit und produziert eine Vielzahl an Aufnahmen, darunter fast sämtliche Sinfonien Mozarts, die meisten seiner Konzerte und Serenaden sowie die großen Opern, welche Marriner ganz besonders liebte:

„Die Sänger kamen damals und wohnten in unserem Haus und wir erzählten und gingen dann ins Studio. Das waren ideale Bedingungen. Mozart ist einer der Komponisten, ohne die ich nicht leben könnte.“

Strenger Verzicht auf Manierismen

Marriner ist Motor, Kopf, Manager, Spiritus rector und väterlicher Freund für seine Orchestermusiker. Er selbst aber sieht sich nur als Musikant – in des Wortes eigentlicher Bedeutung! Denn er ist kein Ideologe. Daher steht er auch der historisch informierten Spielweise verhalten gegenüber.

Sein musikalisches Ideal beruht auf Transparenz, einer Schlankheit des Tons und geschliffen gleichmäßigen Linien. Diese Vorstellungen verfolgt Marriner auch, als er 1983 die Leitung beim damaligen Radio-Sinfonieorchester Stuttgart übernimmt.

Sir Neville Marriner (Foto: SWR, Hugo Jehle)
Sir Neville Marriner übernimmt von 1983 bis 1989 die Leitung beim damaligen Radio-Sinfonieorchester Stuttgart.

Auch hier beweist er einen strengen Verzicht auf Manierismen und jede Form von Exzentrik. Kritiker warfen ihm vor, eine eigene Handschrift vermissen zu lassen. Das aber hätte Marriner eher als Lob verstanden; denn mit seiner Art des Musizierens und den vielen Einspielungen wirkt er geschmacksbildend für viele Klassikliebhaber.

Ein Leben für die Musik

Neville Marriner erhält im Jahr 1985 den Ritterschlag. Seither darf er sich „Sir“ nennen. Doch die Erfüllung seiner Lebensträume bemisst sich für ihn nicht an Titeln und Erfolgen, sondern daran, wie sehr er die Musik lieben und für sie leben darf.

Die Idee ohne Musik zu leben? Ich wüsste nicht, was ich mit meinem Leben anfangen sollte.

Bis ins hohe Alter ist Marriner ein international gefragter Gast. Daneben ist er stets ein Familienmensch geblieben, der sich auch gern auf sein eigenes Anwesen zurückzieht.

Noch im betagten Alter moniert er lediglich, dass es mit dem Tennisspielen nicht mehr ganz so gut läuft. Am 2. Oktober 2016 ist Neville Marriner im Alter von 92 Jahren gestorben.

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