Die Musikwissenschaftlerin, Autorin und Redakteurin Noemi Deitz publiziert und forscht zu den Themen Gender in der Musik und Musik in Luxemburg – und hat in ihrer Dissertation jetzt beides vereint: Anhand der Geschichte der luxemburgischen Komponistin Helen Buchholtz erzählt sie exemplarisch die Geschichte vieler Komponistinnen des 20. Jahrhunderts.
Natürlich war Helen Buchholtz umtriebig – wie ließen sich sonst auch über 400 Seiten mit ihrer Lebens- und Werkgeschichte füllen? Sie war talentiert, ambitioniert, klug, zielstrebig, und sie hat in ihren 75 Lebensjahren 140 Werke komponiert: Lieder, Klavierstücke, Chor- und Orchesterwerke.
Heute populär, zu Lebzeiten nicht
In Luxemburg gehört sie mittlerweile zu den Bekanntesten unter den Komponistinnen und Komponisten des Landes – das war aber nicht immer so, wie Noemi Deitz schreibt:
„Von ihren Kompositionen gelangte nur ein Bruchteil an die Öffentlichkeit – die Gründe hierfür sind vielschichtig. Wer von dem umfangreichen Gesamtschaffen wusste, ist unklar. Und falls ihre nächste Verwandtschaft davon in Kenntnis war, so maßen sie dem musikalischen Nachlass so wenig Bedeutung zu, dass sie ihn entsorgen wollten.“
Buchholtz' Neffe machte ihr Leben und Schaffen zugänglich
Derjenige, der kurz nach ihrem Tod vor 70 Jahren alle 200 Notenmanuskripte aus dem Müll fischte und sie Anfang der 2000er Jahre veröffentlichte, war ihr Neffe, François Ettinger.
Er hat nicht nur viel über sie gesprochen, sondern auch seine Erinnerungen aufgeschrieben – an ihnen hangelt sich auch Noemi Deitz in ihrem Buch entlang. Ettinger schreibt zum Beispiel:
Bedingung an die Ehe: Keine Kinder
An anderer Stelle will der Neffe sich daran erinnern, wie die 36-jährige Helen Buchholtz ihrem Ehemann vor der Hochzeit zwei Bedingungen gestellt haben soll: dass er ihre innere und zeitliche Freiheit respektieren sollte, die sie zum Komponieren brauchte – und dass er auf Kinder verzichtet.
Leben Kinder oder keine? Über den Druck, Mutter zu werden
Willst du denn keine Kinder? Diese Frage hören viele junge Frauen. Der Druck, Nachwuchs zu bekommen, ist groß. Mirjam Steger hat zwei Frauen getroffen, die darüber erzählen.
Noemi Deitz bezieht sich immer wieder auf die Memoiren des Buchholtz-Neffen, aber geht dabei vor wie eine Detektivin. Ettinger war zum Zeitpunkt der Hochzeit gerade sechs Jahre alt – wie viel hat er tatsächlich davon mitbekommen? Und aus wievielter Hand hat er die Anekdote später gehört?
Noemi Deitz stellte viele Fragen
Wozu dienen Narrative wie dieses überhaupt? Wie verlässlich sind vergleichbare Quellen, wenn es darum geht, nicht nur eine Komponistin künstlerisch zu entdecken – sondern sich auch ihrem Wesen und Leben anzunähern? Noemi Deitz schreibt:
„In diesem Buch geht es keinesfalls darum, eine ‚biografische Wahrheit‘ oder eine ‚objektive Biografie‘ vorzulegen, sondern vielmehr darum, das heute zugängliche Quellenmaterial zu kontextualisieren und kritisch auszuwerten – es gilt stets ‚mit Fragen an Quellen heranzutreten, anstatt eindeutige Antworten von ihnen zu erwarten‘.“
Kritischer Umgang mit Quellen spannend wie ein Krimi
Diese Kontextualisierung und kritische Auswertung der Quellen über Helen Buchholtz liest sich dabei zwischenzeitlich spannend wie ein Krimi: Die Autorin nimmt ihre Leserinnen und Leser mit in Archive, private Briefe und auf Ausflüge in den historischen Kontext Luxemburgs zu Helen Buchholtz‘ Zeiten.
Sie erforscht Musik- und werktheoretische Fragen und immer wieder in besonderer Tiefe den Notentext, sie zeichnet die Stationen und Entscheidungen im Leben ihrer Protagonistin so detailliert nach wie es nur geht – und bleibt dabei stets hellwach, offen für Zweifel und Fragen.
Helen Buchholtz wollte wahrgenommen werden
Gängige Narrative wie zum Beispiel, dass Helen Buchholtz vielleicht gar kein Interesse daran hatte, groß herauszukommen, ihr Oeuvre zu publizieren und ernsthaft als Komponistin wahrgenommen zu werden, kann die Autorin auf diese Art und Weise sehr überzeugend widerlegen:
„Die Überlegung, Buchholtz sei in späteren Jahren weniger an der Publikation ihrer Werke interessiert gewesen, ist kaum haltbar. Hinzu kommt, dass die Kriegsjahre von 1939 bis 1945 kaum günstige Bedingungen für die Erscheinung neuer Kompositionen boten. Konnte Buchholtz also die Werke nicht veröffentlichen? Erneut stellt sich die Frage nach möglichen Gründen. Die Drucklegung ihrer Werke wäre wohl kaum an den Finanzen gescheitert, verfügte sie doch über die entsprechenden Mittel, die Kosten im Zweifel aus eigener Tasche zu decken.“
Keine Aktivistin, aber ein Frau mit politischer Haltung
Brennende Fragen auch nach Helen Buchholtz‘ politischer Gesinnung und ihrer Positionierung etwa im Hinblick auf die Frauenbewegung oder die Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland – immerhin hat sie mehrere Jahre in Wiesbaden gelebt –, beantwortet das Buch teilweise nur sehr vorsichtig, und das macht es so wertvoll.
Ja, Helen Buchholtz war mit „einigen liberal und fortschrittlich denkenden Persönlichkeiten“ befreundet, die zum engeren Kreis der Frauenbewegung gehörten und hat Texte politisch schreibender Autorinnen vertont.
Ja, sie frönte, wie viele Luxemburgerinnen und Luxemburger, einem gewissen Nationalstolz. Ja, sie setzte sich 1942 in einem Werk mit der Verwüstung auseinander, die der Zweite Weltkrieg im Norden Luxemburgs hinterließ. Eine Aktivistin schien sie dennoch nicht zu sein.
Beste Rahmenbedingungen für das Komponieren
Die kinderlose Helen Buchholtz, die aus einer wohlhabenden Familie stammte und wenige Jahre nach der Hochzeit von ihrem verstorbenen Ehemann ein kleines Vermögen erbte, genoss die wohl besten Rahmenbedingungen für das Komponieren.
Sie konnte schreiben „wann sie wollte, wo sie wollte, vor allem aber auch was und wie sie wollte“ – und diese Freiheit hat sie, vor allem ästhetisch, ausgekostet.
Musik wurde als „weiblich“ herabgesetzt
Bei all dem war sie aber noch immer eine Frau – und als solche von höheren Musikberufen ausgeschlossen. Ihre Musik wurde von Rezensenten immer wieder als „weiblich“ charakterisiert und damit auf ihren Platz verwiesen – vielleicht wurde ihr Werk also auch nicht von allen ganz ernst genommen.
Umso mehr rüttelt Noemi Deitz‘ Buch nun dahingehend auf: Schauen wir uns diese Komponistin in Zukunft bitte mehr und genauer an.
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