Donaueschinger Musiktage 2013 | Werkbeschreibung

Werke des Jahres 2013: "In situ"

Stand
AUTOR/IN
Philippe Manoury, aus dem Französischen: Birgit Gotzes

Die Großform interessiert mich ganz besonders dann, wenn sie ein vielfältiges und komplexes Geflecht von Verweisen, vagen Erinnerungen, Anspielungen und Vorahnungen entwickelt, wenn sie bewirkt, dass mehrere Momente in zeitlichen Distanzen miteinander kommunizieren. Unsere Wahrnehmung von Zeit ist heterogen und "polyphonisch", um diesen musikalischen Terminus aufzunehmen, für den ich kein wirkliches Synonym finde. Ich meine damit, dass wir sehr häufig ein Gefühl von mehreren übereinanderliegenden Zeitschichten haben. Eine manchmal alte Erinnerung modifiziert unsere Gegenwart und diese lässt uns eine Zukunft entwerfen. Mir gefällt der Gedanke, dass die Musik eine Spiegelung des Zeitgewebes sein muss, das wir im täglichen Leben erfahren. Anders gesagt bedeutet das, dass Musik vor allem "organisch" sein muss.

Seit einigen Jahren arbeite ich mit einem Verfahren, das ich "Grammaires Musicales Génératives" ("Generative musikalische Grammatiken") genannt habe und das mir hilft, solche Großformen zu realisieren. Manchmal wird dieses Verfahren auf das gesamte Werk angewendet, manchmal – das ist bei "In situ" der Fall – nur in bestimmten Momenten. Das Verfahren besteht darin, ausgehend von bestimmten Klangeinheiten (das kann ein Motiv sein, eine Figur, aber auch eine einfache Klangmorphologie oder eine besondere Situation, etwa ein Solist gegenüber einer Gruppe) Phrasen zu konstruieren, die in einer präzisen Anordnung aneinandergefügt sind. Diese Anordnung erhält schließlich einen präzisen musikalischen Sinn, weil sie die Beziehungen bestimmt, die diese Einheiten miteinander unterhalten: Zum Beispiel wird ein bestimmtes Ereignis A sich immer vor dem Ereignis B befinden oder ein bestimmtes Ereignis C wird immer mit dem Ereignis D verknüpft sein. Ich konstruiere also neue Phrasen, indem ich die Ausgangsstruktur leicht verändere und indem ich nach und nach die Beziehungen zwischen den Ereignissen modifiziere. Das ergibt Phrasen, die nach verschiedenen Vorgaben aufeinander folgen, aber in keiner Weise einen besonderen Ausdruck implizieren. Ich kann dieses Verfahren mit einer Metapher beschreiben: Wenn man eine Idee ausdrücken möchte, muss man an die Idee an sich denken, aber auch an den Moment, in dem man sie ausdrücken wird. Diese Ideen befinden sich dann in manchmal weit voneinander entfernten Momenten, und es ist dieser Kontakt außerhalb jedweder Reihenfolge, der mich bei der Komposition einer Großform interessiert. Es handelt sich also um lange Zeitdauern, aber es ist nicht so sehr die Länge des Werkes als vielmehr sein formaler Reichtum im Zeitablauf, der mich bei den großen musikalischen Formen anzieht. So gesehen geben mir bestimmte Werke von Morton Feldmann, etwa sein Zweites Streichquartett mit einer Dauer von annähernd sechs Stunden ununterbrochener Musik oder auch das Streichquartett von Luigi Nono, das über einen Zeitraum von mehr als vierzig Minuten einen einzigen Gedanken ausdrückt, nicht das, was mich an der Großform interessiert. Auch wenn in meiner musikalischen Arbeit die Großform einen besonders wichtigen Platz einnimmt, so liebe ich doch auch ihr genaues Gegenteil: die kurze Form, den Aphorismus, die Konzentration auf eine Idee, die nicht dazu bestimmt ist, sich zu entwickeln. In der Komposition für zwei Klaviere und Orchester, an der ich gerade arbeite, wird einer der Sätze nicht die Dauer von zehn Sekunden überschreiten, in denen "alles gesagt sein muss". So gesehen liebe ich die 10. Bagatelle op. 119 von Beethoven ebenso sehr wie seine Hammerklaviersonate, Webern genauso wie Mahler, Borges wie Joyce. Die kurze Form ist wie ein Foto, das man während einer Reise aufnimmt, die Großform dagegen ist die Reise selbst. Und wie bei jeder Reise wünsche ich mir, dass die Landschaft nicht zu monoton ist und dass die Zeit reichhaltige und verschiedenartige Eindrücke bietet.

In einer großen Dauer gibt es Momente, die in unserem Gedächtnis im Verhältnis zum Ganzen schließlich eine gewisse Autonomie erlangen. Daran habe ich gedacht, als ich "In situ" komponierte. Diese unabhängigen "Momente" waren es, denen ich zuerst meine Aufmerksamkeit gewidmet habe. Das Werk ist nicht in der Chronologie entstanden, die es in der Endredaktion erhalten hat. Ich habe zunächst Momente komponiert, ohne zu wissen, in welcher Reihenfolge ich sie später anordnen würde. Wenn ich dies so schreibe, beziehe ich mich dabei ausdrücklich auf die von Stockhausen so geschätzte Moment-Form, der ich nicht peinlich genau folge, von der ich aber einige Reminiszenzen übernehme. Diese "Momente" sind charakterisiert durch Zentren, in deren Innerem die Musik sich über stark individualisierte Ausdrucksformen kristallisiert. So gibt es "Klangregen", "zitternde Oberflächen", "Echos", "Einbrüche", "Explosionen" und "Klangsäulen", die wie Schwerpunkte in der Zeit agieren und die entweder durch Überleitungen oder durch heterogene Sequenzen, die aus noch heterogeneren, komplexeren und mehrdeutigen Texturen bestehen, miteinander verbunden sind. Ich habe mich sodann bemüht, alle Spuren zu verwischen, also den Übergang von einem Moment zum anderen verschwimmen zu lassen, wie das in unserer psychischen Realität, aber auch in der Natur meistens geschieht: Von einer gebirgigen Landschaft in die Ebene gelangt man in der Regel stufenweise.

Gegenstand von "In situ" ist die geografische Situation. Es ist die räumliche Anordnung der Instrumentalgruppen, die zu einem großen Teil am Anfang dieser Musik stand. Auf der Bühne ist ein Solistenensemble, das in homogenen Familien angeordnet ist: Holzbläser, Blechbläser und Streicher. Ihm gegenüber befindet sich ein Streichorchester; das große Orchester ist um das Publikum herum verteilt. Seine Aufstellung scheint chaotisch zu sein, jedenfalls nicht konventionell. Holzbläser und Streicher sind nicht in homogenen Gruppen aufgestellt, sondern bilden kleine individuelle Gruppen. Doch in dieser scheinbaren Unordnung entstehen Symmetrien: Die Schlagzeuger bilden ein Rechteck um den Saal herum, die drei Gruppen der Blechbläser sind in einem Dreieck angeordnet, während Flöten und Klarinetten vorne links und in der Mitte rechts vom Publikum ihren Platz haben, und die Oboen und Fagotte vorne rechts und in der Mitte links vom Publikum befinden etc. So wird der Zuhörer ein homogenes Klangbild vor sich haben und dieses wird heterogen, sobald es sich im Saal um ihn herum verteilt. Der Raum spielt auch eine entscheidende Rolle bei der Art, wie die Klänge sich im Saal verteilen werden: Manchmal sind die hohen Töne vorne, die tiefen hinten, als ob eine riesige Partitur in den Saal eingeschrieben wäre und man den graphischen Entwicklungen von oben nach unten folgen könnte, wie man den Klangbewegungen vom Hohen zum Tiefen folgt. Häufig habe ich Situationen und Bewegungen im Raum entworfen, bevor ich eine einzige Note geschrieben hatte. In "In situ" sind die Orte, von denen die Klänge herkommen, genauso wichtig wie die Klänge selbst.

Stand
AUTOR/IN
Philippe Manoury, aus dem Französischen: Birgit Gotzes