Donaueschinger Musiktage 2008 | Werkbeschreibung

Werke des Jahres 2008: "Chronos-Aion"

Stand
AUTOR/IN
Brian Ferneyhough, aus dem Englischen: Lydia Jeschke

"Chronos-Aion": materialgebundene Zeit (die Zeitlichkeit der konkreten Figur, von abrupten Wechseln der Struktur, Perspektive und Ausrichtung) gegenüber fließender Zeit, einer Zeit, die die klangliche Dimension in ihrem langsamen, ungeformten Nachzeichnen physischer Intensitäten entfaltet. Die eine neutralisiert eine direkte Wahrnehmung von Zeit, indem sie sie restlos absorbiert, die andere nimmt und nutzt ihre fühlbare Präsenz als eine Leinwand, gegen die provisorische Schatten struktureller Latenzen projiziert werden.
Henri Bergson spricht von "verwirrten Vielfältigkeiten" als der Kernform der Wahrnehmung von Zeit, die die menschlichen Sinnesorgane unserem Bewusstsein anbieten. Zeit ist nicht singulär, aber sie ist gebunden an unser jeweils singuläres Bewusstsein in der ungemessenen und unmessbaren Wechselwirkung zwischen vielen subjektiven qualitativen Dimensionen. Die Idee einer "fühlbaren" Zeit – einer Zeit, die durch das Individuum als Empfindungsqualität wahrgenommen wird, als absolute, nicht reduzierbare Identität – steckte viele Jahre lang im Kern meines kompositorischen Denkens. Seit meiner Oper "Shadowtime" habe ich mehr und mehr verstanden, dass musikalische Form aus der chaotischen Kreuzung und Einwirkung vieler flüchtiger zeitlicher Spuren entsteht, wobei einige von ihnen zusammen mit speziellen klanglichen Verkörperungen existieren, andere aber offenbar versuchen, ihre reale Präsenz zu behaupten, indem sie auf ihrer Unvereinbarkeit beharren.

Im Einklang mit diesen Überlegungen suchte ich in Chronos-Aion, eine feine Ebene zeitlicher Bewusstheit beizubehalten, sowohl im großen als auch im lokalen Maßstab. Die hauptsächliche Stoßrichtung einer prozessualen Veränderung ist folglich deutlich geradeaus; Sie beginnt mit einem schnellen Wirbel von kurzen, unverbundenen Bildern, die Form beginnt allmählich, eine unterschwellige Verlangsamung zu enthüllen, wahrend das Detail an der Oberfläche und die undeutliche Schwankung im Hintergrund einander nach und nach zu einem gewissen Grad ausschließen, was zu einer Gabelung der zeitlichen Perspektive führt: eher einer Art strukturell als räumlich stereophoner Raum. Gleichzeitig wird unser Zeitgefühl als ein vorab gegebenes, als ein Rahmen der Wahrnehmung destabilisiert, es fließt unregelmäßig vor und zurück über die unendlich kleine Grenze, die sowohl die qualitativen von den quantitativen als auch die vielfachen und aufeinander folgenden Muster der verschiedenen, aber vergleichbaren Ereignisklassen trennt. Duchamps Konzept des Inframince, die beinahe nicht wahrnehmbare Trennung (oder "simultane Verzögerung") zwischen zwei angrenzenden Ereignissen oder Zuständen, war mir ebenfalls im Kopf, als ich mir die vielfachen Schichtungen und plötzlichen "non sequiturs" vorstellte, die für die Sprache in Chronos-Aion typisch sind. In Musik erleben wir nicht die Wahrnehmung einer Art unmöglichen Herabfallens "reiner" Zeit, sondern die höchst gefährdete Verkettung von Eintagsfliegen, aus der das Erleben der Wirkungsweisen der Zeit selbst entsteht.

Chronos-Aion besteht aus 112 Abschnitten. Es dauert annähernd 28 Minuten.

Stand
AUTOR/IN
Brian Ferneyhough, aus dem Englischen: Lydia Jeschke