Disziplinübergreifende Betrachtungen zum Ursprung von Musik

Informatives wie nützliches Nachschlagewerk

Stand
Autor/in
Dieter David Scholz

Buchkritik vom 26.7.2017

Claudio Monteverdis „Favola in musica“, L'Orfeo, war der Urknall der Gattung Oper und ein Dokument musikalischer Selbstfindung des Menschen nach dem Motto: Ich singe, also bin ich. Doch schon lange vor der Erfindung der Oper besaß Musik eine fundamentale Bedeutung für den Menschen, wie Flöten aus Tierknochen, die älter als 35.000 Jahre sind, belegen. Dem entspricht ein reicher Fundus mythologischer Erklärungen der Entstehung von Musik. Der Mythenforscher Norbert Bischof:

Das Verhältnis von Musik, Natur und Mensch, so machen mehrere Autoren des Sam­melbandes deutlich, bestimmten Transformationen griechischer Mythen durch die Spätantike bis ins vierte nachchristliche Jahrhundert. Die frühen Kirchenväter leiteten die Musik dann vom Gotteslob der Psalmodie ab. Im gesamten Mittelalter habe man die Musik als Gabe Gottes aus der Bibel erklärt, so erfährt man bei der Lektüre der ersten Aufsätze im ersten Teil des umfangreichen Bandes. Erst im 18. Jahrhundert, in der Aufklärung, bezog sich die Betrachtung des Ursprungs der Musik, wie der Herausgeber, Sascha Wegner, betont, unmittelbar auf den Menschen. Er zitiert Samuel Petri, der in seiner 1782 veröffentlichen „Anleitung zur praktischen Musik“ die Entstehung der Musik aus der menschlichen Rede erklärte:

Auch für Charles Henri de Blanville war Gesang „der erste Laut der Natur“ und deshalb die Quelle aller musikalischen Kunst, denn „der Mensch singe schon, indem er rede, und daher entstehe die Musik“. Doch die kritische Spätaufklärung überwand die Erklärung der Musik aus biologischen und evolutionären Zusammenhängen. Der Musikgelehrte Johann Nicolaus Forkel hat in seiner „Allgemeinen Geschichte der Musik“ 1788 als Erster an einem übergeordneten Naturbegriff gezweifelt, durch den Musik als anthropologische Konstante erklärt wurde:

Während der erste Teil des Buches antiken Mythos, Christentum und Aufklärung behandelt, widmet sich der zweite Teil personenzentrierten Perspektiven der Funktion von Ursprungserzählungen. Während seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Philosophie mit der Entmythologisierung der mythischen Erzählungen über Musik beschäftigt war, gewinnt der Mythos im 19. Jahrhundert wieder neue Aktualität, vor allem bei Richard Wagner. In seiner Programmschrift „Oper und Drama“ führt er sein Musikdrama auf Volksdichtung und germanischen Mythos zurück und leitet Musik aus dem Wort her:

Während des „Waldwebens“ in Richard Wagners „Ring“ fragt sich Siegfried, wie man wohl einen singenden Waldvogel verstehen könne, und versucht erfolglos, aus einem Schilfrohr eine Flöte zu schnitzen, um diesen Naturlaut nachzuahmen. Diese Entlarvung, ja Entmythologisierung der Melodie als Naturlaut, diene Wagner als quasi volksmythische Begründung der Autonomie des modernen Künstlers, so liest man. In diesem Sinne habe Wagner der Moderne eine Perspektive eröffnet, die in abschließenden Beiträgen über Jean Cocteaus Sicht auf Debussy und Strawinsky, über den Gründungsmythos des „Antiromantisme“ also, aber auch dem über Webern und die Gründungsmythen der Wiener Schule bestätigt werden.

Das von Sacha Wegner herausgegebene Buch schlägt einen weiten Bogen von der Antike übers Christentum bis zur Moderne des 20. Jahrhunderts und macht deutlich, dass Rückbesinnung auf Ursprungsmythen von Musik immer wieder bemüht wurden, wenn es um das Neue in der Musik ging. Kein leichtes Thema und keine leichte Lektüre. Ein ausführliches Personen- und Begriffsregister, aber auch Hinweise auf Quellen und weiterführende Literatur im Fließtext machen die Publikation zu einem informativen wie nützlichen Nachschlagewerk.

Buchkritik vom 26.7.2017 aus der Sendung „SWR2 Cluster“

Stand
Autor/in
Dieter David Scholz