Wenn man „digitale Programmhefte“ googelt, sieht man, dass eigentlich alle große Konzerthäuser sie mittlerweile anbieten. Manche lieben sie, manche nehmen größtmöglichen Abstand. Albrecht Selge versucht eine Lanze für die Digitalisierung zu brechen; und hat auch ein paar Ratschläge.
Das gute, alte Papier
Einmal habe ich beim Festival im schweizerischen Luzern etwas Merkwürdiges erlebt: Neben mir saß ein älteres Ehepaar, offenbar wohlbetucht, denn pro Platz waren da um die 200 Franken fällig – und die beiden Herrschaften lasen das Konzertprogrammheft auf einem DIN A 4-Zettel, den sie sich ausgedruckt hatten. Zweimal gefaltet und in die Innentasche des edlen Anzugs gesteckt.
Das war nicht nur eine köstliche helvetische Miniatur: diese liebenswerte Mischung aus Wohlstand und Sparsamkeit. Es zeigte auch, wie sehr viele von uns am guten, alten Papier hängen. Denn hätte das Schweizer Paar das Programm nicht auch direkt im Internet lesen können, statt es auszudrucken?
Aber auf Papier ist es irgendwie etwas anderes – und wenn es auch ein übriggebliebenes Schmierblatt ist, das auf der Rückseite schon bedruckt war.
Einsparpotenzial
Grundsätzlich aber geht der Trend zum E-Programmheft. „Die nächste Evolutions-Stufe in der digitalen Vermarktung von Veranstaltungen“: So preist ein Anbieter seine Dienstleistung an, sein – Zitat – „multimediales Ökosystem“. Der offensichtlichste Vorteil ist natürlich der Ressourcenschutz, das Einsparen von Papier und Druckertinte und auch einfach Kosten. Die Argumente fürs E gehen aber darüber hinaus: Man kann sich schon vor dem Konzerttermin zuhause vorbereiten, wenn man möchte, und so das Musikerlebnis vertiefen.
Nicht nur lesend, sondern auch durch eingebundene Videos oder Hörbeispiele. Das ist toll. Da sind neue Medien und klassische Musik keine Widersprüche, im Gegenteil: Auch unsere Beschäftigung mit Bach, Beethoven und Brahms profitiert von der Digitalisierung.
Prä-Internet-Generation
Aber es ist eben auch wie mit dem strikt bargeldlosen Fahrscheinkauf im Bus: Es fallen beim Fortschritt immer ein paar Benutzer durchs Raster. Und zwar gerade die, die sich nicht lauthals im Internet beschweren. Barrierefreiheit sollte immer auch für altmodische Menschen gelten, die für andere „von gestern und vorgestern“ scheinen.
Beim Busfahren sind das die, die keine Kreditkarte haben – aus welchen Gründen auch immer. Und beim digitalen Programmheft sind es die, die noch immer ohne Internet durchs Leben gehen.
Ein passender Mittelweg
Für die schneidigen Bewohner des „multimedialen Ökosystems“ mag es unvorstellbar scheinen, dass es noch undigitalisierte menschliche Lebenswesen gibt. Aber diese Exoten existieren, tatsächlich, ich kenne selbst welche. Sogar einige treue Abonnenten von Konzertreihen oder Opernhäusern sind darunter. Und nicht jeder von denen hat eine nette Enkelin, die für Oma und Opa ausdruckt, was gebraucht wird.
Darum muss man ja nicht gleich dazu zurückkehren, wieder für jede Veranstaltung ein todschickes, glänzendes Programmheft zu drucken, das dann nach Konzertende im Papiermüll landet. Warum nicht mal ein bisschen unkomplizierter denken?
Man könnte zum Beispiel für Abonnenten gleich bei der Bestellung die Option anbieten, dass sie auf Wunsch das ausgedruckte Programmheft nach Hause geschickt bekommen. Ganz simpel, auf DIN A 4. Und auf Kosten des Absenders – das ist für den Veranstalter immer noch eine vielfache Ersparnis zum klassischen Programmheft und wäre doch eine freundliche Geste.
Und auch für den Besucher eine Ersparnis von zwei bis drei Euro; oder eben Franken – ein Angebot, das auch preisbewusste Schweizer Millionäre überzeugt!
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