Buch der Woche vom 6.5.2019

Aus dem amerikanischen Englisch von Britt Somann-Jung

Stand
AUTOR/IN
Eberhard Falcke

Aus dem Amerikanischen von Britt Somann-Jung

Ein junges Ehepaar erlebt bei der Übernachtung im Hotel einer Kleinstadt ein böses Erwachen: Der Mann wird der Vergewaltigung bezichtigt und zu zwölf Jahren Gefängnis verurteilt. Damit beginnt für die Beziehung des afroamerikanischen Paars eine bittere Zeit der Prüfungen, in der sich alles verändert.

Tayari Jones bietet zahlreiche Einblicke in die Haltungen und das Familienleben einer Schicht, über die sonst wenig zu lesen ist, nämlich den aufstrebenden afroamerikanischen Mittelstand. Die Autorin zeigt, wie sehr diese Schicht noch unter Beweisdruck steht, sich von den prekäreren Lebensformen vieler Angehöriger ihrer Ethnie abzusetzen.

Außerdem ist es tatsächlich ein herzergreifender Roman über eine große Liebe.

Die afroamerikanische Literatur ist im Aufschwung

Die afroamerikanische Literatur erlebt bei uns gerade einen kleinen Boom der Wiederentdeckung. Es begann mit der Neuübersetzung der Bücher von James Baldwin. Und in diesem Frühjahr wurden „Sohn dieses Landes“ von Richard Wright aus dem Jahr 1941 und Ralph Ellisons berühmter Roman „Der unsichtbare Mann“ von 1952 neu aufgelegt.

Tayari Jones dagegen kommt direkt von der Bestsellerliste der New York Times, von der aus der Weg in die weite Welt bekanntlich kurz ist. Und noch kürzer ist der Weg von der Aufnahme in Oprah Winfreys Buchklub auf die Bestsellerlisten.

Der Titel des Romans geht auf Tuchfühlung mit Philip Roth und Theodore Dreiser

Mit dem englischen Originaltitel des Romans – „An American Marriage“ – stellt sich die Autorin in die anspruchsvolle Reihe zweier längst in die Literaturgeschichte eingegangener Werke: „Eine amerikanische Tragödie“ von Theodore Dreiser und „Amerikanisches Idyll“ von Philip Roth.

Tayari Jones wurde 1970 in Atlanta geboren, der Hauptstadt des US-Bundesstaates Georgia, wo vor dem Bürgerkrieg noch rege mit Sklaven gehandelt wurde, und in den 60er Jahren die schwarze Bürgerrechtsbewegung eines ihrer Hauptquartiere hatte.

Oprah und Obama fungieren als Multiplikatoren

Schon während des Studiums schrieb Tayari Jones ihren ersten Roman, zwei weitere folgten und machten ihren Namen zu einem Begriff in der Szene der afroamerikanischen Literatur. Mit ihrem jüngsten Roman aber schaffte sie im vergangenen Jahr den Durchbruch.

Nicht zuletzt sicherlich dank der Empfehlungen von Oprah Winfrey und Barack Obama, die für die nicht gerade gehätschelte afroamerikanische Literatur etwas getan und das Buch mit wärmsten Worten empfohlen haben.

Eine einzige Nacht verändert das Leben des Paars für immer

Es sollte einfach ein Wochenendbesuch bei den Schwiegereltern werden. Für die Übernachtung aber zogen es Roy und Celestial vor, in ein Hotel zu gehen. Doch dann geschah das, was Roy mit diesen Worten beschreibt:

Im Morgengrauen flog die Zimmertür unter den Tritten von Polizeistiefeln auf, Roy wurde beschuldigt, eine Frau, die ebenfalls im Hotel übernachtete, vergewaltigt zu haben. Im anschließenden Prozess wischte das Gericht alle gegenteiligen Beteuerungen beiseite und verurteilte den unschuldigen Mann zu zwölf Jahren Gefängnis.

Justizirrtümer mit rassistischem Hintergrund sind keine Seltenheit

So beginnt Tayari Jones' Roman, in dem sie vom Leben eines afroamerikanischen Ehepaares unserer Tage erzählt. Wer James Baldwins kürzlich wiederaufgelegten Roman „Beale Street Blues“ aus den siebziger Jahren gelesen oder dessen Verfilmung gesehen hat, mag sich darüber wundern, dass solche Justizirrtümer, von denen besonders schwarze Amerikaner betroffen sind, an Aktualität nichts verloren haben.

Tatsächlich jedoch wurden seit den 1970er Jahren die Bedingungen überhaupt erst geschaffen, die dazu führten, dass heute etwa fünf mal so viele Schwarze wie Weiße in amerikanischen Gefängnissen einsitzen.

Das Ehedrama wird in den Vordergrund gerückt

Umso mehr fällt ins Auge, dass Tayari Jones diesen permanenten Justizskandal geradezu ostentativ in den Hintergrund rückt. Nur beiläufig wird die, wie es einmal heißt, „rassistisch geprägte Gefängnisindustrie“ hin und wieder erwähnt.

Stattdessen entpolitisiert die Autorin die Geschichte von Roy und Celestial praktisch vollständig und konzentriert sich ganz auf das Ehedrama mit der Kernfrage: Kann eine Liebe die Trennung durch Gefängnismauern überleben?

Briefe offenbaren das Innenleben der Protagonisten

Um das Empfinden und die Entwicklung ihrer Figuren unter diesen Bedingungen darzustellen, benutzt die Autorin den Briefwechsel, also die klassische Form zur Erkundung des Innenlebens seitdem der Engländer Samuel Richardson das Genre des Briefromans im 18. Jahrhundert entwickelt hat.

Da zeigt sich schon in Roys flehenden Worten an seine Frau etwas von dem Konflikt, an dem sich alles entscheiden wird:

Eine Ehe unter diesen Bedingungen scheint für Celestial unmöglich

Celestial hat die besten Vorsätze, aber sie hat auch eine Karriere als aufstrebende Künstlerin, sie hat seit Jugendjahren ihren Busenfreund Andre und sie hat bald das Gefühl, dass sich mit einem Mann, der nicht da ist, auch keine Ehe führen lässt. Tayari Jones durchleuchtet dieses Dilemma gründlich, wortreich und durchaus ergreifend.

Celestial ist fest entschlossen, Roy weiterhin loyal als Freundin zu Seite zu stehen, ihr Lebensgefährte aber soll künftig Andre sein. Roy dagegen schwankt zwischen Resignation und Behauptungswillen. Als er nach fünf Jahren in einem Wiederaufnahmeverfahren freigesprochen und aus dem Gefängnis entlassen wird, spitzt sich die Situation erneut zu.

Es entwickelt sich eine komplexe Dreiecksbeziehung

Nun geht die Autorin dazu über, die drei Protagonisten Celestial, Roy und Andre abwechselnd aus ihrer Perspektive erzählen zu lassen. Dabei liegt der Schwerpunkt auf dem Hin und Her der Gefühle, dem Werben und Zurückweisen, dem Fordern und Verwehren, den Ausbrüchen und Besänftigungen.

So grübelt Celestial, als Roy versucht, sie zurück zu gewinnen:

Jones zeichnet ein facettenreiches Bild des zwischenmenschlichen Konfliktes

Tayari Jones haucht ihren Figuren überzeugend eine Menge an Lebendigkeit, Charakter und Eigenwillen ein. Andererseits beginnt die Handlung sich nach der Entlassung von Roy im Kreise des immer gleichen Konfliktes zu drehen. Manche Wendung wirkt, als solle nun eben einfach noch eine weitere Variante auf dem Reißbrett der Beziehungskonstellationen durchgespielt werden.

Dennoch ist der Roman gut geschrieben und liefert ein facettenreiches Bild des Geschehens. Ein literarisches Wunderwerk ist er allerdings nicht. Vor allem wirkt er in politischer Hinsicht doch etwas zu gefällig.

Glücklicherweise aber hat die Autorin ihre Geschichte vom Verlieben, Heiraten und Entlieben in einen größeren Rahmen gestellt und die erotische Dreiecksgeschichte mit mehrfachem Familienanschluss versehen.

Starke Nebenfiguren bieten Einblicke in die Schicht des afroamerikanischen Mittelstandes

So werden auch die Eltern der Protagonisten ausführlich ins Bild gerückt und das sind kernige Persönlichkeiten, die oftmals mehr Profil besitzen als ihre Sprösslinge. Dadurch gewinnt der Roman über das Liebesdrama hinaus tatsächlich auch vielsagende soziale Dimensionen.

Denn Tayari Jones bietet zahlreiche Einblicke in die Haltungen und das Familienleben einer Schicht, über die sonst wenig zu lesen ist: nämlich den aufstrebenden afroamerikanischen Mittelstand.

Eine soziale Schicht unter Rechtfertigungsdruck

Die Autorin zeigt, wie sehr diese Schicht noch unter dem Beweisdruck steht, sich in ihrem Selbstbewusstsein und ihren Werten von den prekäreren Lebensformen vieler Angehöriger ihrer Ethnie abzusetzen.

Männer, die Frauen schwängern, um sie dann sitzen zu lassen, Frauen, die von verschiedenen Liebhabern ein Kind nach dem anderen kriegen - das sind für diese ehrenwerten Väter und Mütter Bilder des Schreckens.

Dafür, dass ihre Kinder anders werden, haben sie gearbeitet, gebetet und immer wieder ihre Autorität eingesetzt. Und es ist genau solch eine stabile Mittelstandsexistenz, die auch Roy vor seiner Verhaftung angestrebt hat:

Das Buch verrät viel über die amerikanische Gegenwart

Tayari Jones' Roman ist jedenfalls ein interessantes Buch. In seinen Stärken wie in seinen Schwächen erzählt und verrät es viel über die amerikanische Gegenwart und die noch immer nicht ganz einfache Aufgabe für afroamerikanische Autoren, ihre literarischen Positionen zu finden.

Da wäre es durchaus von Vorteil gewesen, wenn man dem Buch auf dem Weg in die deutsche Sprache nicht den ursprünglichen Titel „An American Marriage“, „Eine amerikanische Ehe“ weggenommen hätte. Denn darin schwingt ein exemplarischer Geltungsanspruch mit, der dem Roman dann doch etwas von der politischen Brisanz verleiht, mit der Tayari Jones im übrigen so diskret umgegangen ist.

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Eberhard Falcke