Ridley Scott erzählt das Leben von Napoleon Bonaparte weit entfernt von einer Art „Gladiator“-ähnlichen Aneinanderreihung von Kriegstaten, sondern als intimes Stationendrama seiner Ehe mit Josephine Beauharnais.
Ridley Scott behält den Überblick bei chaotischen Schlachtszenen
Ziemlich früh in diesem Film werden wir Zeugen einer rasanten Kampfszene: Es ist die Belagerung von Toulon, deren Erfolg im Herbst 1793 dem jungen Artillerieoffizier Bonaparte frühen Ruhm und die Beförderung zum General eintrug und die ihn erstmals der französischen Öffentlichkeit bekannt machte.
Regisseur Ridley Scott zeigt hier die Kampfhandlungen so komplex und chaotisch, wie sie vermutlich tatsächlich gewesen sind und doch behält er für den Zuschauer den Überblick, sodass man immer weiß, was gerade passiert, und worum es geht.
Den Schimmel unter dem Sattel weggeschossen
Umso überraschender und im besten Sinn schockierender ist der Moment, in dem das Chaos in die filmische Ordnung einbricht und dem Helden plötzlich mit einer Kanonenkugel der Schimmel unter dem Sattel weggeschossen wird.
Um ein Haar wäre es hier mit der Karriere des jungen Offiziers vorbei gewesen. Tatsächlich aber folgte der militärischen auch die politische Karriere und Bonaparte wurde bald als „Erster Konsul“ derjenige, der die Revolution beendete, ihre Errungenschaften auf Dauer stellte, und das Gesicht Europas für immer veränderte.
Bonaparte wird spannend als Privatmann
Ridley Scotts zweieinhalbstündigem Werk geht es nun ähnlich wie seiner Hauptfigur im Leben: Die Hoffnungen des Anfangs, das Tempo und die Kraft der politischen Dynamisierung können im weiteren Verlauf nur selten erreicht werden.
Die Intensität der Schlacht bei Toulon erreichen die Kampfszenen im Film erst wieder am Ende bei Waterloo, wo paradoxerweise Scotts Napoleon auch seine allererste Rede an die Soldaten hält - eine schwer verständliche Entscheidung, waren doch Ruhm und Erfolg Napoleons nicht zuletzt Folge seiner charismatischen Wirkung und Rednergabe.
So ist das, was diesen Film interessant macht vor allem das Bild des Privatmanns Bonaparte und hier wieder das Porträt seiner ersten Frau und großen Liebe Josephine.
Kunst, Politik und Propaganda Napoleon in Kunst und Kino: Der Kaiser und die Macht der Bilder
Für seinen Aufstieg zum wichtigsten Mann Europas setzte Napoleon bewusst auf die Macht der Bilder. Seine Bildpropaganda prägt unser Bild bis heute – auch im Film von Ridley Scott.
Die Chemie zwischen Joaquin Phoenix und Vanessa Kirby stimmt
Das Ergebnis ist ein Film, der alles andere als rund ist, weil erkennbar zu viele Teile des Puzzles fehlen - schon im Vorfeld des Filmstarts erklärt Ridley Scott fast entschuldigend, die kommende Streaming- und DVD-Fassung werde „mindestens vier Stunden“ dauern und „besser“ sein.
Eine zwiespältige Ankündigung. Wovon die Kinofassung letztlich vor allem lebt, sind seine zwei Hauptdarsteller: Joaquin Phoenix und Vanessa Kirby verkörpern ihre Charaktere mit großem Talent. Die Chemie zwischen den beiden ist unbestreitbar, den ödesten Sexszenen der Kinogeschichte zum Trotz.
Bisweilen schrumpft Napoleon zum bizarren Zwerg
Aber der Film geht weit darüber hinaus, indem er Josephine fast zur Hauptfigur und jedenfalls zur Antriebsquelle eines spröden, undurchschaubaren und wenig charismatischen Napoleon macht, der unter der Fuchtel seiner Gattin und seiner Mutter steht und manchmal zu einem grotesken Zwerg schrumpft.
Das bricht nicht nur mit den Erwartungen des Kinos, es ist auch unhistorisch: Faktenwahrheit interessiere ihn nicht erklärte Scott dazu - das ändert nichts daran, dass er die Möglichkeiten des Kinos, einer historischen Figur und einer realen Epoche Bild-Gestalt zu geben, verschenkt.
2024 versucht sich Steven Spielberg am unverfilmten Drehbuch von Stanley Kubrick
Trotzdem ist Scotts Film gerade visuell gelungen – ein unheroisches Portrait, das uns eine graue, kühle, regnerische Welt zeigt: Ohne "die Sonne von Austerlitz", ohne Pathos und bunte Farben, auch mit sanfter Barockmusik statt den historischen korrekten Klängen des Napoleon-Fans Beethoven.
Wer sich auf all das einlässt, wird viele interessante Überraschungen erleben. Der Rest muss auf das kommende Jahr hoffen: Dann wird Steven Spielberg endlich das berühmte unverfilmte Drehbuch Stanley Kubricks in Angriff nehmen.
Trailer „Napoleon“, ab 23.11. im Kino
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