„Bint Filastin“ – Tochter Palästinas
Es ist der 11. Mai 2022, morgens gegen 6.30 Uhr: Am Eingang des Flüchtlingslagers in der palästinensischen Stadt Jenin im Westjordanland fallen Schüsse. Die Journalistin Shireen Abu Akleh wird tödlich von einer Kugel des israelischen Militärs IDF getroffen.
Abu Akleh war mit weiteren Pressevertreter*innen vor Ort, um über eine Razzia des israelischen Militärs zu berichten. Nach einer Reihe tödlicher Anschläge in Israel werden in den besetzten Gebieten seit Ende März 2022 verstärkt Festnahmen im Rahmen der Operation „Break the Wave“ durchgeführt. So auch am Morgen des 11. Mai.
Die getötete Journalistin war in der Region keine Unbekannte: 25 Jahre lang hatte sie für den Nachrichtensender Al Jazeera aus den besetzten Gebieten berichtet, „Bint Filastin“ wurde sie genannt – Tochter Palästinas.
Ein Kollege von Shireen Abu Akleh dokumentiert alles mit der Kamera
Nicht nur Shireen Abu Akleh gerät an diesem Morgen unter Beschuss. Auch Majdi Bannourah ist als Kameramann Teil des Teams – und filmt das Geschehen vor Ort.
„Ich wusste, wenn ich nur einen Schritt weitergehe, sterbe ich. Wenn ich auf die Straße gehe, sterbe ich. Ich blieb also am Boden geduckt und habe gefilmt. Um zu dokumentieren. Also in dem Moment wusste ich eigentlich gar nicht, was ich tat. Es war der Impuls meines Berufs. Ich habe alles gefilmt, bis zum Ende“, sagt er.
Bannourahs Filmaufnahmen zeigen, wie sich Shireen Abu Akleh an eine Mauer drückt. Man hört ihre Kollegin Shatha Hanaysha nach Hilfe rufen, die sich hinter einem Baum versteckt hat. Immer wieder werden Salven in Richtung Baum abgefeuert, schließlich liegt Shireen Abu Akleh reglos am Boden – in einer blauen Schutzweste mit der Aufschrift „Presse“.
Tragischer Unfall oder gezielter Angriff auf die Pressefreiheit?
Die Schüsse kommen alle aus einer Richtung – vom oberen Ende der Straße, wo in etwa 200 Metern Entfernung ein israelischer Militärkonvoi steht.
„Ich habe alles aufgezeichnet: Wie sie unter dem Baum liegt, das Gesicht auf der Erde. Und wie der Beschuss von Seiten des israelischen Militärs kam. Da war sonst nichts, es war total ruhig. Kein einziger bewaffneter Palästinenser. Wo wir uns befanden, war außerdem freies Feld. Es hätte sich niemand irgendwo verstecken können. Die Schüsse kamen ausnahmslos von oben, von der Straße, wo die Militärfahrzeuge standen“, sagt der Kameramann Majdi Bannourah.
Doch die Geschichte, die das israelische Militär noch am selben Tag veröffentlicht, ist eine andere: Während einer Antiterrormaßnahme mit dem Ziel, Hamas-Terroristen festzunehmen, hätten sich die Truppen mit „Dutzenden bewaffneter Militanter konfrontiert“ gesehen, „die Sprengstoff warfen und mit Gewehren schossen“, woraufhin die IDF-Truppen mit „scharfem Feuer“ reagiert hätten. Dabei sei tragischerweise auch Shireen Abu Akleh getroffen worden.
Der Erklärung der IDF ist ein Video beigefügt, das veranschaulichen soll, unter welch schwerem Beschuss die israelischen Streitkräfte an jenem Tag in Jenin standen. Die Aufnahme wird jedoch umgehend von der israelischen Menschenrechtsorganisation B’Tselem als irreführend entlarvt. GPS-Koordinaten sowie eine Luftbildaufnahme zeigen, dass die veröffentlichte Schießerei an einem anderen Ort stattfand und folglich mit Shireen Abu Aklehs Tod nichts zu tun hatte.
Erschütternde Szenen bei der Trauerfeier in Ostjerusalem
Zwei Tage nach ihrem Tod wird Shireen Abu Akleh in Ostjerusalem beigesetzt. An einem Trauerzug nehmen Tausende teil, viele Palästinenserinnen und Palästinenser wollen von der beliebten Journalistin Abschied nehmen. Doch es kommt zu Zusammenstößen zwischen den Teilnehmenden und der israelischen Polizei.
Die Bilder von auf die Sargträger einknüppelnden Polizisten gehen um die Welt und lösen international Entsetzen und Empörung aus. Auch das Auswärtige Amt meldet sich auf Twitter zu Wort:
Die israelische Polizei erklärt tags darauf per Twitter, man habe eine friedliche und würdige Beerdigung ermöglichen wollen. Die Beerdigungsvorbereitungen seien mit Shireen Abu Aklehs Familie abgestimmt gewesen, doch leider hätten Hunderte von Randalierern versucht, die Zeremonie zu sabotieren.
Anton Abu Akleh, der Bruder der verstorbenen Journalistin, widerspricht: „Kaum kamen wir mit dem Sarg aus dem Kühlhaus, griffen sie uns an, mit Schlagstöcken, Tränengas und Blendgranaten. Einfach so. Es gab keinen Grund. Wir haben nichts getan, was so einen barbarischen Angriff gerechtfertigt hätte. Gut ist, dass alles gefilmt und im Fernsehen gezeigt wurde. (...) Es gibt keine Erklärung für so ein Verhalten. Das hat sehr weh getan. Für mich war es wie die zweite Ermordung von Shireen.“
Als Angehörige der arabisch-christlichen Minderheit wird Shireen Abu Akleh auf dem katholischen Friedhof auf dem Zionsberg in Jerusalem beigesetzt.
Offen bleibt, ob die Schüsse gezielt abgegeben wurden
Zwei Monate nach Shireen Abu Aklehs Tod liegen eingehende Untersuchungen von CNN, der New York Times, dem internationalen Recherchekollektiv Bellingcat, Associated Press, der Washington Post und dem UN-Hochkommissar für Menschenrechte vor.
Alle kommen zum gleichen Ergebnis: Die Schüsse wurden vonseiten des israelischen Militärs abgefeuert. Offen bleibt, ob die Schüsse gezielt waren.
Shireen Abu Akleh ist kein Einzelfall
Dass eine Pressevertreterin während der Ausübung ihrer Arbeit von israelischen Streitkräften getötet wird, sei kein Einzelfall, sagt Hagai El-Ad, seit 2014 neun Jahre lang Direktor von B’Tselem.
Das palästinensische Center for Development and Media Freedom, kurz MADA, hat von 2000 bis 2022 die Namen von insgesamt 48 palästinensischen Journalistinnen und Journalisten aufgelistet, die durch israelische Militärs getötet wurden.
Das israelische Militär spricht von einem Versehen
Am 5. September 2022 veröffentlicht das israelische Militär eine abschließende Erklärung zum Tod der Journalistin. Es ist die siebte Version: Demnach scheine es „nicht möglich, die Quelle der Schüsse, die Frau Abu Akleh trafen und töteten, eindeutig zu bestimmen. Es besteht jedoch eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass Frau Abu Akleh versehentlich von Schüssen der IDF getroffen wurde, während eines Schusswechsels abgegeben auf Verdächtige, die als bewaffnete Palästinenser identifiziert wurden, die wahllos auf IDF-Soldaten feuerten“, heißt es darin.
Und weiter: „Darüber hinaus stellte der Generalstabschef in Übereinstimmung mit den Untersuchungsergebnissen fest, dass Frau Shireen Abu Akleh zu keinem Zeitpunkt identifiziert wurde und dass zu keinem Zeitpunkt absichtliche Schüsse von IDF-Soldaten abgegeben wurden, die darauf abzielten, die Journalistin zu verletzen.“
Der Kampf um die Wahrheit geht weiter
„Wir widersprechen diesen Schlussfolgerungen voll und ganz. Sie sind irreführend und falsch. Zu diesem Zeitpunkt gab es kein Feuergefecht“, sagt der Israeli Eyal Weizman. Er ist Professor an der Goldsmith University in London, wo er Forensic Architecture leitet und seit kurzem auch das Berliner Schwester-Projekt Forensis.
Die international renommierte NGO hat sich darauf spezialisiert, mithilfe sogenannter Open-Source-Untersuchungen präzise architektonische 3D-Modelle zu Szenen extremer Menschenrechtsverletzungen zu erstellen. Auf Bitten der Familie hat sie das auch zur Tötung von Shireen Abu Akleh getan und die Ergebnisse zwei Wochen nach dem Abschlussbericht des israelischen Militärs in einer knapp 11-minütigen Video-Präsentation veröffentlicht.
Untersuchung der NGO Forensic Architecture
Die juristische Aufarbeitung ist noch nicht abgeschlossen
Mitte November teilt das US-Justizministerium dem israelischen Justizministerium mit, dass das FBI eingeschaltet sei. Die US-amerikanische Strafverfolgungsbehörde hat eine Untersuchung des Todes von Shireen Abu Akleh eingeleitet, die neben ihrer palästinensischen auch die amerikanische Staatsbürgerschaft besaß.
Shireen Abu Aklehs Familie und der Sender Al Jazeera haben inzwischen Klage vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag eingereicht.
Angehörige, Freundinnen und Arbeitskollegen, aber auch viele ihr nicht persönlich bekannte Palästinenserinnen und Palästinenser trauern nach wie vor um eine bewundernswerte und mutige Frau, die trotz Routine und Erfolg ihrem journalistischen Anspruch treu geblieben ist.
Obwohl es unbequem und gefährlich ist, wollte sie am Ort des Geschehens sein, um alles mit eigenen Augen zu sehen – und bezahlte dafür am Ende mit dem Leben.
Nadja Odeh, Autorin des Features „Tod einer Ikone: Die Journalistin Shireen Abu Akleh“, im Gespräch bei SWR2: