Hinter den Gleisen einer Zugstrecke geht die Sonne unter. (Foto: SWR, Carolin Keil)

Reportage: Mainz - Westerland

Wie entspannt ist die Fahrt mit dem 9-Euro-Ticket nach Sylt?

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Carolin Keil

Mit dem 9-Euro-Ticket kommt man aktuell so günstig wie nie mit dem Zug aus dem Südwesten bis nach Sylt. Der Fahrpreis ist quasi geschenkt, aber man bezahlt mit Zeit und Komfort. Lohnt sich die Reise?

Die Fahrt aus Mainz dauert, wenn alles gut geht, 12 Stunden. Aus Stuttgart sind es 15 Stunden. Ich starte in Mainz, steige sechs Mal um und würde diese Tour sofort wieder machen. Wer gerne Menschen kennenlernt und sich darauf einlassen kann, nicht zu wissen, was der Tag bringt, wird an dieser Reise Gefallen finden.

Diese Hinweise sollten Sie bei Ihrer Reise mit 9-Euro-Ticket nach Sylt beachten.

Diese Deutschlandkarte zeigt die Strecke, die man mit Regionalzügen von Mainz und Stuttgart aus nach Sylt abfährt. (Foto: SWR)
So verläuft die Strecke mit Regionalzügen von Mainz bzw. Stuttgart bis nach Westerland auf Sylt.

Warum Reisen mit dem 9-Euro-Ticket doch teuer sein kann

1. Etappe Mainz-Frankfurt
12-15 Reisestunden sind sehr viel Zeit, um Kaffee und Snacks zu teuren Bahnhofspreisen zu kaufen. Das merke ich, als ich pünktlich an meiner ersten Station an komme und am Frankfurter Hauptbahnhof einen kleinen 4 Euro-Cappuccino trinke. (Gut, die Hafermilch hat auch extra gekostet.)

Mit dem Bummelzug durch die hessischen Funklöcher

2. Etappe Frankfurt-Kassel
Auf dem zweiten Streckenabschnitt stelle ich fest, was alles fehlt - in diesem Land und in diesem Moment:
Es gibt keine Steckdosen im Regio, es gibt kein Mobilfunknetz. Mein privates Handy ist seit diesem Morgen ein Totalschaden (Timing!) und mein Buch habe ich zuhause vergessen. Ein Haargummi habe ich auch nicht mit.

Zum ersten Mal kontrolliert ein Zugbegleiter mein Ticket und erzählt, dass er davon heute schon sehr viele gesehen hat!

Die Bahnpendlerin will aufs Auto umsteigen

3. Etappe Kassel-Göttingen
Und die wollen hier alle rein?, frage ich mich, als ich in Kassel Hauptbahnhof auf den Bahnsteig laufe, an dem der nächste Zug abfährt. Die Menschenmenge ist etwa doppelt so lang, wie der kurze Regio mit seinen zwei Waggons.
Die Tür geht auf. Menschen, Fahrräder und Kinderwägen bewegen sich in den Zug. Fahrräder sind irgendwie zu sperrig für diesen Bereich. Kinderwägen blockieren den Weg. Menschen bleiben im Eingang stehen. Jemand hat die wundervolle Idee, dass Leute einfach weiter rein in den Gang laufen sollen. Die Trägheit der Masse scheint hier unfassbare Kraft zu haben, aber irgendwann sind alle im Zug. Ich schiebe mich an einem der Kinderwägen vorbei und ergattere den letzten freien Fensterplatz neben einer Frau.

So was habe sie in 17 Jahren, die sie die Strecke jetzt schon pendele, nicht gesehen, erwidert sie auf meine Frage, ob das hier immer so voll ist? Sie ist genervt. Ein paar Schüler mittags seien normal, aber das hier nicht. Es graust ihr vor dem kommenden Freitag vor dem langen Pfingstwochenende. Ja, da müsse sie nachmittags auch in diesen Zug. "Da überlegt man als Bahn-Pendlerin, aufs Auto umzusteigen." Wow, das kann nicht die Art von Verkehrswende sein, die das Ticket anregen sollte.

Irgendwann bleiben wir mitten im Nirgendwo stehen. Nach ein paar Minuten spricht uns die Schaffnerin über die Lautsprecheranlage an: "Fragen Sie sich gerade, warum wir hier anhalten?" Das liege an einer Baustelle, wegen der es einen Rückstau gebe. "Der Stopp dauert heute länger als sonst", sagt die Pendlerin neben mir.

Meinen Anschluss in Göttingen erwische ich nur, weil der auch zu spät kommt.

Wirklich alle wollen nach Sylt

4. Etappe Göttingen-Uelzen
Am Bahnhof in Göttingen werde ich auf Lennart und Jonas aufmerksam, weil die auf einem Gaskocher Fertigreis aufwärmen. Der ganze Bahnsteig riecht nach Mittagessen. Sie sind in Karlsruhe gestartet und fahren auch nach Sylt, einfach weil das gerade günstiger Urlaub mit Meme-Faktor ist. Für das 9-Euro-Ticket reicht ihr Geld, für ein Hotel auf Sylt nicht: "Wir haben Schlafsäcke und ein Zelt dabei." Und einen Kasten Bier. Den bekommen sie später im Zug von der Schaffnerin abgenommen. "Alkoholverbot im Zug!"

Maskenwechsel: hier ist sogar FFP2-Masken-Pflicht

5. Etappe Uelzen-Hamburg
Der Zug ist pünktlich. Das wahre Highlight ist ein anderes: Wider Erwarten gibt es Steckdosen in diesem alten Regio.
Außerdem bin ich froh, eine zweite FFP2-Maske dabei zu haben. Die andere ist nach sieben Stunden jetzt gefühlt durchgeatmet.

Schneller Besuch in Hamburg

6. Etappe Hamburg-Elmshorn
In Hamburg habe ich zum ersten Mal an diesem Tag während eines Umstiegs Zeit, noch schnell ein Fischbrötchen zum Abendessen zu kaufen. Starte satt in die kürzeste Etappe dieser Reise mit kurzem Blick auf die Fontäne in der Binnenalster.

Grüne Landschaft mit Windrädern aus dem Zug raus fotografiert. (Foto: SWR, Carolin Keil)
Irgendwo zwischen Elmshorn und der Küste. Handyempfang gibt es nur bedingt, aber hier würde ich sowieso jedem empfehlen aus dem Fenster und nicht auf das Smartphone zu schauen.

Der schönste Streckenabschnitt

7. Etappe Elmshorn-Westerland
Oh, ich habe jetzt auch langsam Sehnsucht danach, endlich anzukommen. Aber es fehlen noch zweieinhalb Stunden bis nach Westerland. Dieser Abschnitt ist der schönste Teil der Strecke. Noch bevor wir über den Hindenburgdamm fahren, der Sylt mit dem Festland verbindet, färbt die Abendsonne alles golden ein, was nicht eh saftig grün ist.

Der Hindenburgdamm führt vom Festland auf die Insel Sylt. (Foto: SWR, Carolin Keil)
Der Hindenburgdamm führt vom Festland auf die Insel Sylt.

Den ganzen Tag habe ich in den Zügen die Schicksale von Menschen und ihren Familien mitbekommen, die sie lauthals am Telefon und auch dem ganzen Abteil erzählen. Hier oben zwischen Kühen und Windrädern, scheint die Welt wieder in Ordnung zu sein. In meinem Wagen sind alle ruhig oder vielleicht auch einfach so müde wie ich.

Das Meer in Westerland auf Sylt bei Nacht. (Foto: SWR, Carolin Keil)
Der Strand in Westerland: Meerluft und Wellenrauschen sind eine faire Belohnung für 12 Stunden Zug fahren.

Als wir schließlich im Bahnhof Westerland einfahren, um 22:35 Uhr, ist es schon dunkel. Trotzdem laufe ich direkt ans Meer. Das ist zum Glück nur zehn Minuten zu Fuß von Bahnhof entfernt.

Im Grunde, denke ich, mit Blick auf das auflaufende Wasser, ist diese Reise gar nicht so schlimm und anstrengend wie sie am Anfang klingt. Mit Blick auf die Pendlerin neben mir im Regio von Kassel nach Göttingen denke ich: Wir können schon alle mit dem 9-Euro-Ticket nach Sylt fahren – nur vielleicht nicht alle zur selben Zeit.

6 Dinge, die Sie vor Ihrer Reise mit Regionalzügen wissen sollten:

Bereiten Sie sich auf Ihre Reise mit Regionalzügen so vor, als würden Sie einen Tag in einer Holzhütte im Wald verbringen. Das heißt:

  • Powerbank mitnehmen! Nicht jeder Regio hat Steckdosen
  • Podcasts und Serien vorher laden! Es gibt nicht überall Netz und schon gar kein WLAN
  • Genug Essen und Getränke einpacken! Es gibt keine Board-Bistros und am Bahnhof beim Umsteigen was zu Essen kaufen, funktioniert oft nicht. Denn, wenn die Züge Verspätung haben, bleibt kaum Zeit.
  • Mit wenig Gepäck reisen! Die Regios sind nicht auf große Reisetaschen ausgelegt. Die Gepäckablage über den Sitzen ist teilweise so schräg, dass nur eine Jacke oder ein Turnbeutel rein passen.
  • Wer im Regio arbeiten will muss sich darauf einstellen, dass die 4er Sitze keine Tische haben und es auch in den 2er Reihen nicht immer Klapptische an den Vordersitzen gibt.
  • Hier greift das Hütten-Szenario nicht ganz: Bei langen Reisen genug Mund-Nasen-Masken zum Wechseln einpacken.
RLP

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Carolin Keil