Das Szenario, dass kein russisches Gas mehr durch die Pipeline fließt, wird seit Monaten diskutiert. Jetzt, nachdem die Wartung am Montagmorgen begonnen hat, ist es Realität - zumindest vorübergehend. Was wäre aber, wenn auch nach der Wartung kein Gas mehr fließen würde, wie einige Experten befürchten?
Gas ist für Produktion essentiell
Rökona - Tochterunternehmen des Familienunternehmens Rösch - produziert technische Textilien wie beispielsweise Dachhimmel für die Autoindustrie. Für die Produktion, die ausschließlich in Tübingen stattfindet, wird überwiegend Erdgas benötigt. "Dass aus Russland kein Gas mehr fließt, muss unbedingt verhindert werden", sagte Arnd-Gerrit-Rösch, Geschäftsführer von Rökona, dem SWR. Für den gesamten Wirtschaftskreislauf sei es fatal, denn die Produktion stehe immer am Anfang. Rösch sieht die Politik in der Verantwortung, schließlich habe sie den Eid geleistet, "Schaden vom deutschen Volk abzuwenden".
In der Textilindustrie, besonders bei der Herstellung technischer Textilien sei man von Erdgas abhängig. "Im Textilveredelungsbereich, wo Stoffe gewaschen und gefärbt werden, gibt es noch keine Alternative zum Gas", so Rösch. Die Maschinen arbeiten mit hohem Druck und Wärme.
Kurzarbeit für Arbeitnehmer
Sollte auch nach der Wartung kein Gas aus Russland fließen und die Politik entscheiden, dass Unternehmen der Gashahn zugedreht wird, stünde die Produktion innerhalb von Sekunden still. "Wir haben keine eigenen Gasspeicher und können auch nicht weit im Voraus produzieren", so der Tübinger Textilunternehmer. Mitarbeiter müssten bei einem solchen Szenario sofort in Kurzarbeit und das Lager sei bereits nach wenigen Tagen bis Wochen leer.
Notfallplan Gas: Unternehmen zuerst betroffen
Tatsächlich planen die Energieversorger im Falle eines Gaslieferstopps von Russland zunächst auf die Industrie zuzugehen. Dies bestätigte auch die Fairenergie Reutlingen. Vorrangig soll Unternehmen, die viel Gas verbrauchen, der Gashahn zugedreht werden. Wenn es nach Rösch geht, muss die Politik schnell handeln und entsprechende Gesetze ändern. Die produzierende Wirtschaft müsse bei der Erdgasverteilung die höchste Priorität erhalten.
Durchschnittlicher Gasverbrauch
Um einen vagen Überblick über den jährlichen Gasverbrauch zu bekommen: Laut der Stadtwerke Tübingen liegt der durchschnittliche Gasverbrauch bei einer Wohnung von 85 m² jährlich bei knapp 12.000 Kilowattstunden. Eine Textilfabrik wie Rökona in Tübingen verbraucht nach Angaben des Geschäftsführers Rösch pro Jahr 12,5 Millionen Kilowattstunden (KWh) Erdgas. Zusätzlich würden acht Millionen KWh Fernwärme und sechs Millionen KWh Strom im Jahr benötigt.
Deutsche Wirtschaft darf nicht den Bach runtergehen
Niemandem sei geholfen, wenn die Wirtschaft den Bach runtergehe, so Rösch: "Die Leute glauben, dass der Staat zahlt, aber im Endeffekt sind es ja die Steuerzahler. Und verlieren diejenigen ihren Arbeitsplatz, ist Schluss".
Auch Unternehmer Wolfgang Grupp von Trigema aus Burladingen (Zollernalbkreis) äußert Unverständnis gegenüber der Politik schon lange vor dem Ukraine-Krieg: "Wir haben einseitige Gasverträge gemacht, wir haben Nord Stream 1, Nord Stream 2 gebaut, Milliarden investiert, und am Schluss sagt man, das ist ein Verbrecher." Von heute auf morgen sei alles anders geworden. "Den Krieg verurteile ich aufs Schärfste, jedoch muss eine diplomatische Lösung angestrebt werden."
Notfallpläne und alternative Energiequellen
Grupp arbeitet wegen der Energie-Krise schon an einem Notfallplan für sein Unternehmen. "Bis zum Betriebsurlaub am 1. August produzieren wir voll durch, weil wir nicht wissen, was danach kommt", sagte der Textilunternehmer. Ein Unternehmen aus Memmingen sei bereits beauftragt worden, einen kurzfristigen Notfallplan sowie einen langfristigen Energieplan zu erarbeiten. Der 80-Jährige sagte, er habe schon mehrere Krisen überstanden, etwa die Banken- und die Coronakrise.
Eine schnelle Umstellung auf andere Energiequellen ist für das Tübinger Unternehmen Rökona nicht möglich. Zwar habe man überlegt, eine Maschine aus den 60-er Jahren zu reaktivieren, um diese mit Öl zu betreiben. Dies sei aber mehr oder weniger nur eine Idee gewesen, da hierfür kostspielige Umbauten notwendig wären. Eine weitere Möglichkeit sei noch, auf eine Abluftverbrennungsanlage zu verzichten, die ebenfalls mit Gas betrieben wird und deren Benutzung bislang Vorschrift ist, so Rösch.
Für die Chemie-Industrie hätte ein vollständiger Gasstopp gravierende Folgen, so das Tübinger Chemieunternehmen CHT. Man habe bereits zahlreiche Vorkehrungen getroffen, um die Verfügbarkeit von Energie und Vorproduktion weiter aufrecht zu erhalten, heißt es auf Nachfrage des SWR. Ein Teil der Werke in Deutschland sei unabhängig von Gas, bei den anderen könne bei Bedarf auf andere Energiequellen umgestellt werden. Die aktuellen Entwicklungen würden auch in Hinblick auf die Lieferfähigkeit bestimmter Rohstoffe im Auge behalten.