Für die Jahreszeit erkranken aktuell ungewöhnlich viele Menschen in Baden-Württemberg an Influenza, umgangssprachlich Grippe genannt. Normalerweise beginnt die Grippewelle später im Jahr mit Höhepunkt nach Jahreswechsel. 2021 blieb sie weitestgehend aus. Allgemein sind Atemwegserkrankungen im Land seit Ende September sprunghaft angestiegen, so eine Auswertung der Krankenkasse AOK Baden-Württemberg. Nach Jahren der Corona-Schutzmaßnahmen könnte eine Art Nachholeffekt Grund dafür sein, vermuten Fachleute.
Grippe-Zahlen in BW deutlich über Vorjahreswerten
379 Influenza-Fälle wurden dem Landesgesundheitsamt diesen Oktober gemeldet, vergangenes Jahr waren es im gleichen Zeitraum nur 17. Auch die bisherigen Zahlen für November liegen bereits jetzt deutlich über denen des gesamten Vorjahresmonats. Die Höchststände vergangener Wellen lagen in Baden-Württemberg üblicherweise grob um die 10.000.
Das Landesgesundheitsministerium rät zur Grippe-Impfung, vor allem älteren Menschen, Vorerkrankten und Schwangeren im zweiten Schwangerschaftsdrittel, aber auch denen, die "viel in Kontakt mit anderen Menschen kommen". Neben Ärzten ist die Impfung diesen Herbst auch in Apotheken möglich.
Bundesweit hohe Fallzahlen könnten an "Nachholeffekt" liegen
Auch bundesweit stellt das Robert Koch-Institut (RKI) vergleichsweise hohe Fallzahlen fest. "Während der letzten Monate wurden deutlich mehr Influenzameldungen an das RKI übermittelt als in den vorpandemischen Saisons um diese Zeit", heißt es in einem Bericht. Demnach habe die Grippewelle in Deutschland in der letzten Oktoberwoche begonnen, seitdem wurden insgesamt über 8.300 Fälle registriert (Stand: 10. November).
Nach den eher niedrigen Zahlen der beiden vergangenen Jahre sei es denkbar, dass die Bevölkerung nun anfälliger sei, also ein Nachholeffekt eintrete, so das Institut. Lothar Zimmermann, Arzt und SWR-Journalist, teilt diese Einschätzung: "Wir haben uns in den letzten Jahren sehr gut geschützt durch die Masken und viele Erreger hatten keine Chance. Und unser Immunschutz gegen diese Erreger hat sich in der Zeit auch abgebaut." Heißt konkret: Wer länger keine Grippe hatte, den könnte es nun wieder erwischen. Wie schwer die Welle tatsächlich werde, lasse sich aber nicht vorhersagen, betont das RKI.
Worauf sich BW in Sachen Grippe einstellen kann, erklärt Arzt und SWR-Journalist Lothar Zimmermann im Gespräch mit SWR Aktuell-Moderator Stefan Eich:
Zahl der Atemwegserkrankungen verdoppelt
Insgesamt ist die Zahl der Atemwegserkrankten in Baden-Württemberg laut AOK im Herbst geradezu explodiert. Im Monat Oktober lag demnach die Zahl der Krankschreibungen von AOK-Versicherten aufgrund von Atemwegsinfekten bei 196.112. Darunter waren 18.965 Corona-Infektionen, was einem Anteil von rund 9,7 Prozent entspricht. Im Oktober 2021 waren es noch 97.117 Atemwegsinfekte mit einem Corona-Anteil von 1.828 Fällen (rund zwei Prozent).
Die bisherige Herbstspitze erreichte die Zahl der Krankschreibungen von AOK-Versicherten wegen Atemwegserkrankungen demnach Mitte Oktober (KW 41) mit 57.114. Der höchste Covid-Anteil war bereits eine Woche zuvor erreicht: In der Kalenderwoche 40 lag die Anzahl der coronabedingten Krankschreibungen unter den AOK-Versicherten bei 5.818 von insgesamt 53.473 Krankschreibungen wegen Atemwegsinfekten und damit bei einem Anteil von 10,9 Prozent. Seitdem sind die Zahlen wieder rückläufig. In der letzten Oktoberwoche lag die Gesamtzahl der Krankschreibungen von AOK-Versicherten aufgrund von Atemwegsinfekten nur noch bei 34.355, der Covid-Anteil lag bei 7,5 Prozent.
Laut der AOK-Ärztin Dr. Sabine Knapstein tragen mutmaßlich mehrere Faktoren zu dem Anstieg bei: "Es gab in den Wochen (...) an einzelnen Tagen bereits Temperaturextreme mit sehr niedrigen Tiefsttemperaturen in der Nacht und fast schon sommerlichen Höchsttemperaturen im Tagesverlauf. Diese großen Temperaturschwankungen im Tagesverlauf können zu einem Anstieg der Infektionszahlen beitragen, weil sie die Verbreitung der Viren begünstigen." Hinzu kommt laut der Ärztin, dass in diesem Herbst wieder vermehrt Veranstaltungen stattfinden, bei denen die Menschen wieder mit deutlich geringerem Abstand sitzen. Abstand, Handhygiene und Maske hätten in den vergangenen beiden Jahren nicht nur gegen die Ausbreitung des Coronavirus gewirkt, sondern auch andere Atemwegserkrankungen und die Grippe ausgebremst, so die Medizinerin.
Hohe Krankenstände schränken Unternehmen ein
Probleme bei der Post-Zustellung oder eingeschränkter Zugverkehr: Viele Unternehmen haben derzeit mit krankheitsbedingten Personalausfällen zu kämpfen. Häufig liegt das an Corona; trotz gesunkener Zahlen werden in Baden-Württemberg aktuell deutlich mehr Infektionen mit Corona als mit Grippe erfasst. Weswegen genau Mitarbeiter krankgeschrieben sind, teilen allerdings nicht alle Unternehmen mit.
In den Verkehrsbetrieben seien überdurchschnittlich hohe Krankenstände von 15 bis 20 Prozent derzeit keine Seltenheit, heißt es vom Verband Deutscher Verkehrsunternehmen. Teils mussten ÖPNV-Linien eingeschränkt werden - so sind in Mannheim und Heidelberg derzeit beispielsweise weniger Straßenbahnen unterwegs.
Bei der Deutschen Post fallen nach Angaben des Unternehmens Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an einigen Betriebsstätten wegen Corona "reihenweise aus". Ein angespannter Arbeitsmarkt verschärfe den Personalmangel zusätzlich. In kritischen Bezirken stelle man Briefe daher nur alle zwei Tage zu. In Teilen Südbadens blieben Briefkästen tagelang leer, berichtete unter anderem der "Südkurier". Auch der Paketdienst DPD hat nach eigenen Angaben derzeit "Herausforderungen zu meistern, was die Krankenstände angeht". Bei Hermes heißt es hingegen, man könne keine "ungewöhnliche Entwicklung" beim Krankenstand feststellen, die Corona-Infektionen unter den Beschäftigten hätten die letzten Monate durchweg auf niedrigem Niveau gelegen.
Ein überdurchschnittlich hoher Krankenstand macht auch dem Einzelhandel zu schaffen. Vor der Pandemie lag dieser laut Handelsverband Baden-Württemberg mehrheitlich deutlich unter 5 Prozent. Jetzt liege er knapp unter 10, bei rund einem Viertel der Unternehmen auch höher, wie Gespräche mit den Händlern ergeben hätten. Gepaart mit dem ohnehin bestehenden Fachkräftemangel habe das bei einigen Läden bereits zu verkürzten Öffnungszeiten oder zeitweisen Schließungen geführt.