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Therapien bei Alkoholsucht – Kontrolliertes Trinken statt Abstinenz

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Franziska Hochwald
Franziska Hochwald (Foto: SWR, privat)
ONLINEFASSUNG
Ulrike Barwanietz
Candy Sauer

Komplett trocken zu bleiben fällt vielen alkoholabhängigen Menschen schwer. Sie werden oft rückfällig oder begeben sich gar nicht erst in Therapie. Kontrolliertes Trinken ist für sie eine gute Alternative.

Abstinenz galt lange als einzig mögliche Therapie bei Alkoholsucht

Laut Robert-Koch-Institut trinken 14 Prozent aller Frauen und 18 Prozent aller Männer Alkohol in riskanten Mengen. Und es gibt eine hohe Dunkelziffer, denn häufig wird das Problem gar nicht erkannt.

Die übliche Therapie bei riskantem Trinkverhalten beginnt mit einem Entzug, der stationär durchgeführt werden muss. Dazu erhält ein suchterkrankter Mensch oft begleitend Medikamente, um lebensgefährliche Entzugserscheinungen abzumildern. An den Entzug schließt sich eine zwölfwöchige stationäre Rehabilitation an, die in therapeutisch unterstützt. Auch in dieser Phase können Medikamente gegeben werden, die mit unterschiedlichen Mechanismen die Abstinenz unterstützen.

95 Prozent der Patienten werden innerhalb eines Jahres rückfällig

Der Besuch einer langfristigen Therapie oder Selbsthilfegruppe erhöht die Wahrscheinlichkeit, ein Alkoholproblem auch in den Griff zu kriegen. Denn die kurzfristigen Rückfallquoten sind hoch: Statistisch gesehen werden 95 Prozent innerhalb des ersten Jahres rückfällig.

Alkohol ist Teil der deutschen Kultur Dau gehört aber auch die Scham, wenn man den eigenen Alkoholkonsum nicht mehr im Griff hat. Nur jeder zehnte Betroffene sucht sich Hilfe. (Foto: IMAGO, IMAGO / Silas Stein)
Alkohol ist Teil der deutschen Kultur Dau gehört aber auch die Scham, wenn man den eigenen Alkoholkonsum nicht mehr im Griff hat. Nur jeder zehnte Betroffene sucht sich Hilfe.

Doch das klassische medizinische Verständnis selbst beruht immer noch auf einer Sichtweise aus den 1960er-Jahren. Vor allem Elvin Morton Jellinek prägte folgende Thesen: Die Neigung zum Alkoholismus ist weitgehend genetisch vorbestimmt. Man ist Alkoholiker oder nicht, es gibt keine Abstufungen. Wer einmal wieder anfängt zu trinken, muss weiter trinken. Und kein Alkoholiker kann jemals lernen, kontrolliert zu trinken.

Aussicht auf kontrolliertes Trinken motiviert viele Betroffene zur Behandlung

Ein Behandlungsansatz, der das Trinken nicht verbietet, sondern einen kontrollierten Umgang damit entwickelt, motiviert doppelt so viele Betroffene wie der absolute Verzicht auf Alkohol. Und er ist sogar erfolgreicher, so Joachim Körkel, Professor für Psychologie an der Evangelischen Hochschule Nürnberg. Körkel entwickelte ein Programm zum sogenannten kontrollierten Trinken. Es besteht aus zehn Schritten, an die gegebenenfalls eine Nachsorgegruppe anschließt.

Kontrolliertes Trinken: 10-Schritte-Programm

  1. Gute Startbedingungen schaffen
  2. Trinktagebuch führen
  3. Bilanz ziehen
  4. Informationen über Alkohol aneignen
  5. Konsumziele festlegen
  6. Risikosituationen erkennen
  7. Kontrollstrategien anwenden
  8. Freizeit planen
  9. Belastungen bewältigen
  10. Erfolg sichern

Die Teilnehmenden lernen u.a., in Standardeinheiten zu denken und so den Alkoholgehalt verschiedener Getränke richtig einzuschätzen. Beim kontrollierten Trinken lernen die Teilnehmenden, mit einem Trinktagebuch zu planen und festzulegen, welche Ziele sie sich für die nächste Woche setzen. Mithilfe eines Selbsttests können Betroffene ihr Konsumverhalten besser einschätzen.

Anonyme Kurse in Stuttgart für kontrolliertes Trinken

Die Suchtberatungsstelle am Klinikum für Suchtmedizin und Abhängiges Verhalten in Stuttgart bietet Kurse für kontrolliertes Trinken an. Die Besonderheit dabei in Stuttgart: Das Angebot ist im Zentrum für seelische Gesundheit angesiedelt, und gleichzeitig absolut anonym, ohne Krankenkarte.

Das kontrollierte Trinken wird bisher noch nicht von der Rentenversicherung anerkannt und folglich in der stationären Reha nicht finanziert. Und doch hat es inzwischen einen festen Platz in der therapeutischen Arbeit. Es ist wissenschaftlich untersucht und erreicht viele behandlungsbedürftige Menschen. Kontrolliertes Trinken kann also für Betroffene ein Weg sein, in die Verantwortung zu kommen und sich als selbstwirksam zu erfahren.

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