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Wie der Mensch die Musik entdeckte

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Gábor Paál
Gábor Paál (Foto: SWR, Oliver Reuther)

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Die Musik hat Evolutionspsychologen ratlos gemacht: Unser Gehirn ist offenbar darauf angelegt, Musik zu genießen oder gar hervorzubringen. Diese Fähigkeit scheint genetisch angelegt zu sein. Doch wozu?

Weil Musizieren keinen offensichtlichen Überlebensvorteil in der Natur bietet, haben Hirnforscher die Musik lange als evolutionäres Abfallprodukt betrachtet. Doch das ändert sich – und vieles spricht dafür, dass Musik eine Art "Schwester" der Sprache ist. Sprache und Musik wären demnach aus einer gemeinsamen Vorgänger-Kommunikationsform hervorgegangen.

Musik: Ein Abfallprodukt der Sprache?

Früher ging die gängige Lehrmeinung etwa so: Aus der stimmlichen Kommunikation der Affen hat sich im Laufe der Jahrmillionen, durch das enge Zusammenleben in der Savanne, irgendwann die menschliche Sprache entwickelt. Zum Sprechen sind viele geistige Leistungen notwendig: Das Gehirn muss in Bruchteilen von Sekunden Klänge analysieren, die einzelnen Laute unterscheiden und ihre Bedeutung erfassen. Sprache benötigt ein Gefühl für Rhythmus und eine Kontrolle des Tonfalls. Genau wie die Musik. Deshalb, so haben Forscher vermutet, könnte sich unsere Musikalität aus den Fähigkeiten heraus entwickelt haben, die wir zum Sprechen benötigen.

Doch von dieser Annahme rücken sie nun immer mehr ab. Zu deutlich sind die Unterschiede zwischen Musik und Sprache:

  • Sprache dient vor allem der Information. Ein Sender teilt einem Empfänger etwas mit. Beim gemeinsamen Musizieren dagegen ist der Unterschied zwischen Sender und Empfänger kaum auszumachen: Musik teilt man nicht mit. Man teilt sie miteinander.
  • Sprachen bestehen aus Wörtern. Wörter haben eine symbolische Funktion. Das Wort „Flasche“ bezeichnet einen bestimmten Gegenstand – aber es ist willkürlich gewählt, das Wort hat selbst nichts Flaschenhaftes an sich. Musikalische Klänge dagegen haben in der Regel keine symbolische Bedeutung – es gibt keine musikalischen Vokabeln, die man lernen müsste, um sie zu verstehen. Deshalb ist es in der Sprache oft möglich, das gleiche mit anderen Worten zu sagen, oder auch in einer anderen Sprache. In der Musik geht das nicht. Jede Melodie, jedes Thema ist unverwechselbar.

Hinweise aus der Hirnforschung

Die Hirnforschung kommt zu einem ähnlichen Befund: Wenn wir sprechen oder musizieren, sind zum Teil die gleichen Hirnareale aktiv – etwa das sogenannte Broca-Areal links vorne am Kopf. Wenn wir Sprache hören, analysiert dieses Areal unter anderem den Satzbau. Wenn wir Musik hören, analysiert es die musikalische Syntax, die Abfolge von Tönen und Klängen.

Aber die Musik beansprucht darüber hinaus spezifische Hirnfunktionen, die zum Sprechen kaum benötigt werden – und umgekehrt.

Musik – die Schwester der Sprache

Steven Mithen glaubt deshalb nicht, dass sich die Musik aus der Sprache heraus entwickelt hat. Er hält es für wahrscheinlicher, dass beide auf eine gemeinsame Vorgänger-Kommunikation zurückgehen. Die noch keine Wörter kannte, dafür aber schon sehr musikalisch war. Und die beide Funktionen vereinte, die heute auf Sprache und Musik verteilt sind: Informationen austauschen einerseits – Gefühle ausdrücken und Stimmungen beeinflussen andererseits.

Gemeinsamkeiten zwischen Sprache und Musik

Einige Phänomene deuten noch heute auf die Verwandtschaft: Etwa die melodiöse Art, wie Eltern mit ihren Babys sprechen. "Warum tun wir das?", fragt der Archäologe Steven Mithen. "Ich denke, wir tun es, weil wir instinktiv wissen, dass gerade für ein vorsprachliches Kind die musikalischen Aspekte der Sprache wichtig sind."

Ein anderes Phänomen ist das Lachen: Es gibt auffallende Gemeinsamkeiten zwischen Gelächter und Musik: Beide drücken Gefühle aus. Beide spielen eine wichtige Rolle bei der Formung von menschlichen Bindungen. Gemeinsames Lachen stärkt und betont die Zusammengehörigkeit.

Wie die Sprache, so wurde vermutlich auch die Musikalität des Menschen durch das Leben in größeren Gruppen begünstigt. Dafür sprechen Befunde aus Archäologie, Psychologie und der Musikwissenschaft, die ein Forschungsteam kürzlich in einem wissenschaftlichen Artikel zusammen getragen hat.

Musik in der frühen Menschheit: Kein Konzert, sondern Alltagskommunikation

Musik – wie immer sie in ihren Anfängen geklungen haben mag – diente vermutlich vor allem dazu, soziale Bindungen zu festigen, sowohl innerhalb der größeren Gemeinschaft, aber auch zum Beispiel in der Kommunikation zwischen Müttern und Babys.

Auf jeden Fall hatte die „Ur-Musik“ wohl wenig zu tun mit der heutigen Idee von Musikern als solistischen „Künstlern“ mit „Publikum“. Dieses Konzept hat sich vermutlich erst sehr viel später entwickelt.

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