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Ursula Weidenfeld – Das doppelte Deutschland. Eine Parallelgeschichte, 1949 - 1990

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AUTOR/IN
Leander Scholz

Als vor 75 Jahren zwei deutsche Staaten gegründet wurden, war ihr Schicksal noch völlig offen. Trotzdem wird mit der deutschen Geschichte meist nur die Geschichte der BRD assoziiert, während die DDR wie ein toter Seitenarm erscheint.

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Ursula Weidenfeld liefert die Geschichte eines doppelten Deutschlands, die so noch nicht geschrieben wurde.

Als im Juli 1961 rund um Berlin auf dem Gebiet der DDR ungewöhnlich viel Baumaterial angehäuft wurde, wussten die westdeutschen Politiker noch nicht, was auf sie zukommen würde. Zwar hatte sie der bundesdeutsche Nachrichtendienst darüber informiert, dass bei Westfirmen große Mengen an Stacheldraht bestellt worden seien, aber wozu genau dieser im Ostteil der Stadt eingesetzt werden sollte, darüber gingen die Meinungen auseinander.

Stacheldraht aus dem Westen

Wenige Wochen später, in der Nacht zum 13. August, riegelten Polizisten und Soldaten alle Grenzübergänge ab. Der Bau der Mauer hatte begonnen.

Der groteske Umstand, dass der Stacheldraht zur Befestigung der Grenze aufgrund von Materialmangel aus dem Westen beschafft werden musste und auch geliefert wurde, ist für die Historikerin Ursula Weidenfeld nicht nur ein Ausweis des politischen Zynismus im damaligen Zentralkomitee der DDR. Er ist auch ein Sinnbild für die durchgängigen und manchmal auch abstrusen Beziehungen zwischen zwei deutschen Staaten, deren Gründung und Geschichte bislang viel zu häufig getrennt betrachtet wurde.

Die geteilte Geschichte

Ursula Weidenfeld, die sich als Biografin der ehemaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel einen Namen gemacht hat, legt mit ihrer Parallelgeschichte von BRD und DDR daher nun gewissermaßen eine Doppelbiografie vor. Darin werden die Jahre der deutschen Teilung von 1949 bis 1989 immer abwechselnd und gleichberechtigt einmal aus westdeutscher und einmal aus ostdeutscher Perspektive erzählt.

So sollen die Abhängigkeiten und Spannungen in der Beziehung zwischen den beiden deutschen Staaten sichtbarer werden, wie die Autorin hervorhebt:

Wer die Geschichte der DDR nur von ihrem Ende her betrachtet, vernachlässigt diese Aspekte – und überzeichnet auf der anderen Seite die Eigenständigkeit der westdeutschen Geschichte. Ja, ohne die Sowjetunion hätte es die DDR nicht gegeben. Ohne die USA hätten aber auch die drei Westzonen keinen Staat gebildet, möglicherweise auch keine Zukunft in Freiheit und Wohlstand gehabt.

Zunächst zeichnet Weidenfeld die unterschiedlichen Startbedingungen der beiden deutschen Staaten nach, deren Schicksale nach dem zweiten Weltkrieg unmittelbar durch den Ost-West-Konflikt bestimmt wurden. Denn sowohl im Westen als auch im Osten mussten sich die Deutschen den Respekt ihrer neuen politischen Familien erst einmal erkämpfen.

Die BRD tat alles, was nötig war, um ihre neue Westbindung verlässlich erscheinen zu lassen und den Beweis dafür zu erbringen, dass sich Demokratie und Wohlstand wechselseitig befördern. Im Gegenzug hatte sich die DDR vorgenommen, zum sozialistischen Musterschüler im Ostblock zu werden und Moskau gegenüber ganz besonders treu ergeben zu sein. So entstanden Konkurrenz und Entfremdung zugleich.

Die Wunde der Erinnerung

Im Rückblick wird diese komplizierte Beziehung jedoch meist sehr ungleichgewichtig betrachtet. Bei der BRD steht fast immer ihr Erfolg im Vordergrund und dass sich ihre Institutionen über die Jahrzehnte bis heute bewährt haben. Dagegen wird die Geschichte der DDR überwiegend von ihrem Untergang her erzählt, so als wäre der Grund für ihren Misserfolg bereits von Anfang an offenbar gewesen.

Das Urteil der Geschichte wird zugleich zum Urteil der Geschichtsschreibung. Das sieht im Fall der BRD völlig anders aus, wie Weidenfeld ausführt:

Westdeutschland dagegen kann Anspruch auf vollständige Betrachtung und umfangreiche Würdigung seines schönen Werdegangs erheben. Seine Geschichte wird von Beginn an chronologisch erzählt und fortgeschrieben, von der Staatsgründung bis heute. Der Blick auf diese Geschichte ist gnädig: Denn er bestimmt nicht nur die Position des Landes in der Vergangenheit, er legitimiert auch seine Gegenwart.

Nicht zuletzt gehören diese Unterschiede in der Geschichtsschreibung zu den Gründen, warum Ostdeutsche auch heute immer noch den Eindruck haben können, nur als Bürger zweiter Klasse zu gelten.

Mit ihrer einmaligen Doppelbiografie bringt Ursula Weidenfeld eindringlich in Erinnerung, was es überhaupt bedeutet, dass es Deutschland zweimal gegeben hat, und dass das zähe Nachleben der DDR nur dann aufgearbeitet werden kann, wenn die Vergangenheit beider Staaten als eine gemeinsame betrachtet wird.

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