Buchkritik

Thomas Halliday – Urwelten. Eine Reise durch die ausgestorbenen Ökosysteme der Erdgeschichte

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AUTOR/IN
Brigitte Neumann
Literaturwissenschaftlerin und Rezensentin Brigitte Neumann.  (Foto: SWR)

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Der Paläobiologe Thomas Halliday beschreibt in seinem Sachbuch "Urwelten", warum Ökosysteme vor vielen Millionen Jahren ausstarben, manche aus ähnlichen Gründen, die auch das gegenwärtige, vom Menschen geprägte Ökosystem, bedrohen. Ein faktengesättigter und poetischer Text über die Fähigkeit des blauen Planeten, nach jedem Untergang wieder neues Leben hervorzubringen.
Rezension von Brigitte Neumann.

Aus dem Englischen von Hainer Kober
Hanser Verlag, 464 Seiten, 28 Euro
ISBN 978-3-446-27268-2

Dies ist ein umwerfendes Buch – umwerfend die Faktendichte, umwerfend der poetische Stil und umwerfend, wie es den Leser durchschüttelt. Es packt ihn, stopft ihn in eine Zeitmaschine und rast mit ihm durch 16 Erdzeitalter. Zum Beispiel in das vor 635 Millionen Jahren beginnende Ediacarium. „Eine fremde Welt“, schreibt der Paläobiologe Thomas Halliday, „die eher dem wässrigen Mars ähnelt als der Erde, wie wir sie heute kennen.“

Es gibt keine Pflanzen und keine Tiere. Aber mehrzelliges Leben, das sich im Wasser zu entwickeln begann. Bakterien und Archaea im Meer schufen die Basis dafür, sie produzierten Lage für Lage einer „Milchpuddinghaut“, wie der Autor schreibt, in der sich höhere Organismen verankerten oder von der sie sich ernährten.

Zwei Aspekte des Stils von Thomas Halliday sind bemerkenswert – einmal seine Vorliebe für sinnliche Metaphern und filmreif geschriebene Actionszenen darüber, wie man sich wohl das Leben in weit entfernten Erdzeitaltern vorstellen könnte und zum anderen sein wissenschaftlicher Duktus. „Archaea“ – was ist das? Erst ein Lexikon bringt Aufklärung – kurz gesagt, eine besondere Art Bakterien. Aber das Buch lohnt sich, allein schon, weil einem ein Licht aufgeht über die Position des Menschen in der Entwicklungsgeschichte unseres Planeten.

Hallidays Buch „Urwelten“ ist klar strukturiert: 16 Erdzeitalter, 16 Kapitel. Jedes Kapitel ist etwa 20 Seiten lang und behandelt einen Ort, an dem der Autor oder einer seiner Vorgänger und Kollegen auf Spuren, Funde, auf sogenannte Fossilberichte gestoßen sind. Am Ende des Buches dankt er ihnen und schreibt: „Allein in diesem Buch verweisen die direkten Literaturangaben auf die Arbeit von mehr als 4000 einzelnen Wissenschaftlern.“

Auf dem Weg vom Pleistozän, das vor 11-tausend Jahren endete, bis zum Ediacarium, dem letzten Erdzeitalter, vom dem sich Fossilberichte fanden, erlebte der Planet, so Halliday, fünf Mal ein massenhaftes Artensterben. Das bekannteste geschah im Paläozän, als ein 10 km langer Meteorit die Erdkruste zum Bersten brachte. Drei Viertel aller Arten starben aus, darunter auch die Dinosaurier. Aber nach dem Vergehen kommt immer das Werden, lernen wir von Thomas Halliday, in diesem Fall eine Blütezeit der Zersetzer, der Pilze. Danach startet das Leben auf der Erde neu.

Thomas Halliday beschreibt die regelmäßigen Umschwünge der Ökosysteme von Eiszeit zu Heißzeit und wieder zurück, als gehorchten sie dem Pendel eines gleichgültigen Gottes. Wir denken aktuell womöglich, wir steuerten auf eine noch nie da gewesene, vielleicht sogar finale Krise der Erde zu und empfinden uns als Schuldige und Opfer dieser Misere, als Sünder, die ihre Strafe erwarten. Nein, schreibt Thomas Halliday, wie alle Tiere suchten auch die Menschen nur ihren evolutionären Vorteil. Und weiter heißt es:

„Vom Menschen verursachte Veränderungen können weitgehend als natürlich angesehen werden. Wir gehören zum Reich des Lebendigen und sind ein Teil des Lebensbaums.“

„Urwelten“ von Thomas Halliday zeigt, dass es in weit zurückliegenden Erdzeitaltern ähnliche Problemlagen gab wie heute: die Zunahme von Kohlenstoff in der Atmosphäre, global höhere und nivellierte Temperaturen, Artensterben, Anstieg des Meeresspiegels. Mit Blick auf die Vergangenheit können wir erkennen, was uns in Zukunft erwartet, wenn wir den menschengemachten Klimawandel nicht stoppen, so Halliday über seine Motivation, dieses Buch zu schreiben.

Machen wir weiter wie bisher, dann wird die Erde für uns sowie für das uns umgebende Ökosystem unbewohnbar. Sie wird, so vermutet Halliday, nach einer kurzen Pause von einigen zehntausend Jahren mit Bakterien, Farnen, Kellerasseln schlicht von vorn anfangen – aber dann ohne uns.

(Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.)