Buchkritik

Mathias Enard – Das Jahresbankett der Totengräber

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AUTOR/IN
Kathrin Hondl

Mit dem Blick eines Anthropologen präsentiert Mathias Enard ein faszinierendes Portrait des ländlichen West-Frankreichs im 21. Jahrhundert.

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Mathias Enard ist ein Autor der großen literarischen Wagnisse

Ein Roman, der 500 Seiten lang aus einem einzigen langen Satz besteht - mit diesem waghalsigen sprachgewaltigen Werk – „Zone“ heißt das Buch - wurde der französische Autor Mathias Enard 2008 international bekannt.

Und „Zone“, (der monumentale Monolog eines Veteranen aus dem Jugoslawienkrieg), war nur der Auftakt zu einem immer wieder aufs Neue beeindruckenden literarischen Werk. 2015 wurde Mathias Enard für den Roman „Boussole“ – auf Deutsch „Kompass“ – mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet.

Jetzt erscheint im Hanser-Verlag ein neuer Roman von Mathias Enard: „Das Bankett der Totengräber“ – und wieder ist dem Franzosen ein wunderbarer wagemutiger Wurf gelungen. Ein großer Roman, der aus der Sumpflandschaft des west-französischen Départements Deux-Sèvres heraus das ganz große Ganze in den Blick nimmt …

„Für die wilden Denker“

Schon in der Widmung, die Mathias Enard seinem monumentalen Roman vorausschickt, klingt an, dass hier eine Vision des ganz großen Ganzen entworfen wird. Das „wilde Denken“ – so nannte der Ethnologe Claude Lévi-Strauss die ganzheitlichen Denkweisen vermeintlich „primitiver“ Kulturen; eine Ordnung der Welt, die magische Zusammenhänge erkennt zwischen Lebewesen und Dingen, Zeit und Raum, Landschaft und Geschichte.

Auf den großen Lévi-Strauss beruft sich auch der Ich-Erzähler: David Mazon, ein junger Pariser Anthropologe mit dem ehrgeizigen Projekt einer wegweisenden Doktorarbeit über das französische Landleben. Und so zieht er für einige Zeit in ein kleines Dorf im westfranzösischen Département Deux-Sèvres.

Dieser David ist ein extrem von sich selbst eingenommener Mann – er hält sich tatsächlich für einen neuen Lévi-Strauss -, und so sind seine Tagebuchnotizen oft ziemlich komisch, besonders wenn er von seinen Fortschritten beim Computerspiel Tetris, seinem Ekel vor den Schnecken im Badezimmer oder den Qualen seiner Fernbeziehung erzählt.

Sehr frustrierend, diese Webcams, trotz (oder wegen) der starken erotischen Aufladung. Lara trug einen Pyjama, eine Art Satin, glaube ich. Ähm, diese Bemerkung ist ein wenig unangebracht. Wir stellen uns ja auch nicht vor, wie Lévi-Strauss über die Dessous seiner Frau spricht. (…) Zu mir, Götter der Anthropologie, kleine Götter der Wilden, kommt und verhelft mir zur perfekten Doktorarbeit.

Mit der perfekten Doktorarbeit, das ist schnell klar, wird es wohl eher nichts. Aber David Mazon taucht immer mehr ein ins Dorfleben am Rand der Sumpflandschaft des Marais Poitevin.

Mit einem Blick in die französischen Provinz wird die Geschichte ganz Europas erzählt

Mit dem Tagebuch des Anthropologen-Lehrlings präsentiert Mathias Enard ein Portrait des ländlichen West-Frankreichs im 21. Jahrhundert. Von der hart arbeitenden jungen Biobäuerin bis zu den britischen Rentnern im Lebensabend-Exil, von der Frisörin, die als Ich-Unternehmerin durch die Dörfer reist, bis zu Thomas, dem dicken Wirt der einzigen verbliebenen Bar im Ort, vom Künstler Max über den letzten Dorfpfarrer bis zu Martial, dem Bürgermeister und einem der titelgebenden Totengräber des Romans.

Ausgehend von dem aktuellen Gesellschaftstableau kreiert Enard aber noch ein sehr viel profunderes Bild dieser westfranzösischen Region und ihrer Geschichte – ja, eigentlich wird in diesem packenden und wirklich großartigen Roman die von Gewalt geprägte Geschichte und Gegenwart ganz Europas erzählt.

Wiedergeborene Seelen springen durch Zeit und Raum

Mathias Enard gelingt dies mit einem erzählerischen Trick, der zugleich die große Vision des Romans ist: Reinkarnation. Beim Tod eines Lebewesens, sei es Mensch oder Tier, wandert die Seele sofort in einen anderen Körper.

Und zwar kreuz und quer durch die Jahrhunderte: Vom Dorfpfarrer in ein Wildschwein, von „finsteren Mördern“ des 19. Jahrhunderts zu den Schnecken im Bad des Ethnologen, vom gehörnten Ehemann der 1940er Jahre zum Barockdichter Théodore Agrippa d’Aubigné, in den Hugenottenkriegen kämpfte.

D’Aubigné wurde Dichter, um für die Verfehlungen seiner Jugend zu büßen, in der er mehr als jeder andere für die Freiheit gelitten und sie genossen hatte, die schöne Freiheit, die Bibel in französischer Sprache zu lesen, jener neuen und noch wilden Sprache, die er mehr als jede andere liebte (…)

Kunstvoll, wortspielerisch und unheimlich gelehrt, aber nie angestrengt führt Enard uns immer wieder von der Gegenwart in die Geschichte und zurück. Via Reinkarnation schafft er geradezu genial Verbindungen zwischen Menschen und Epochen, Landschaften, Leidenschaften und - natürlich – Literaturen.

Wenn lebenslustige Totengräber feiern

Zentrum des überbordenden Romans ist das schon im Titel versprochene „Jahresbankett der Totengräber“ – ein richtig großes Fressen und eine Hommage an den Renaissance-Schriftsteller Francois Rabelais.

99 Herren des Bestattungsgewerbes versammeln sich dort, wo einst auch Rabelais weilte, in der Abtei von Maillezais, zu einem gargantuesken Gelage. Und: Die Totengräber erzählen sich Geschichten, die vor allem eins nicht sein dürfen: langweilig.

Mit dem Suppenlöffel vom gegenüberliegenden Tisch katapultierte Schneckenhäuser bespritzten die Glatze des Redners mit Butter; Langustenschwänze klammerten sich wie durch Zauberhand an den Kragen seines Sakkos, und schimmernde Froschknochen garnierten seinen Bart, kurz, er glich schnell einem Tableau vivant jenes Malers, der so beliebt ist, weil er Appetit macht – wie heißt er doch gleich?, ach ja, Arcimboldo –, denn er war bedeckt mit allem, was man werfen konnte, sogar mit einem halben Ei: die traditionelle Bestrafung für langweilige Redner.

Das Jahresbankett der Totengräber ist ein Roman, der mit Witz und fast schon fleischlicher Freude dem mythischen Rabelais huldigt.

Und es ist ein radikal moderner Roman, der mit seiner atemberaubenden nicht-linearen Erzählform, dem Hin und Her der wandernden Seelen zwischen Gegenwart und Geschichte, so etwas wie ein kollektives Gedächtnis wachruft – mit einer letztlich sehr ernsten Botschaft: Menschen, Tiere, Gesellschaft, Natur. Alles hängt miteinander zusammen – „alles ist eins“, sagt Mathias Enard. Und meint: Ohne dieses Bewusstsein ist die Welt nicht zu retten.

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Kathrin Hondl