Kommentar

Anspruchsvolle Schreibweisen – Die belletristischen Nominierungen für den Preis der Leipziger Buchmesse

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AUTOR/IN
Carsten Otte
SWR2 Literaturkritiker Carsten Otte (Foto: SWR, Georg Bielfeldt)

Die Jury des Preises der Leipziger Buchmesse hat durchweg literarische Titel ausgewählt, die als ambitionierte Literaturkunst und weniger als Unterhaltungsprodukt gelten müssen. In der Kategorie Belletristik gehören Ulrike Draesners Roman „Die Verwandelten“ und das Portrait des Wormser Hohlweltfantasten Peter Bender zu den Favoriten. SWR2 Literaturkritiker Carsten Otte über die Auswahl der nominierten belletristischen Bücher.

Ulrike Draesner: Die Verwandelten

Es sind viele bekannte Namen unter den nominierten literarischen Titeln, Bücher von bereits ausgezeichneten Autorinnen und Autoren, deren aktuelle Werke im Feuilleton gelobt wurden, weil sie für anspruchsvolle Schreibweisen stehen. Etwa „Ulrike Draesner mit ihrem Roman „Die Verwandelten“, der von Vertreibung und Verbrechen im 20. Jahrhundert erzählt, insbesondere vom „Missbrauch des weiblichen Körpers für Kriegszwecke“. Die Poesie bietet bei Draesner etwas Hoffnung in der Welt der Gewalt, wie die Jury in ihrer Begründung hervorhebt.

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Dinçer Güçyeter: Unser Deutschlandmärchen

Zum Kreis der Favoriten gehört gewiss auch Dinçer Güçyeter, der mit „Unser Deutschlandmärchen“ vom Schicksal jener Frauen erzählt, die seine eigene Biografie prägten, zum Beispiel Fatma, die nach Deutschland zieht, um dort in einer Fabrik zu arbeiten. Der Peter-Huchel-Preisträger Gücyeter verarbeitet seine Familiengeschichte in „Träumen, Gebeten, Monologen, Dialogen und Chören“ und bestätigt damit seinen Ruf als Dichter, der mit unterschiedlichen literarischen Formen zu spielen weiß.

Unser Deutschlandmärchen“ als Hörbuch bei SWR2:

Lesung Dinçer Güçyeter: Unser Deutschlandmärchen - Lesung

Eine Familiengeschichte in vielen Stimmen. Dinçer Güçyeter, der in Nordrhein-Westfalen als Sohn türkischer Einwanderer geboren wurde, erzählt in poetischen Bildern und in Monologen, Dialogen, Träumen, Gebeten und Chören vom Schicksal der Frauen seiner Familie, von archaischer Verwurzelung in anatolischem Leben und von der Herausforderung, als Gastarbeiterin und als deren Nachkomme in Deutschland ein neues Leben zu beginnen.

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Clemens J. Setz: Monde vor der Landung

Durchaus spannend war die Frage, welche der vielen belletristischen Frühjahrstitel aus Österreich die Leipziger Jury wohl auswählen würde, immerhin ist das Nachbarland in diesem Jahr Ehrengast der Leipziger Buchmesse. Die Wahl fiel auf den grotesk-bitteren Roman „Monde vor der Landung“ von Büchner-Preisträger Clemens J. Setz, der von dem Wormser Hohlwelt-Fantasten Peter Bender erzählt. Das Portrait ist erschreckend aktuell, handelt es doch vom Leben mit einem alternativen bzw. völlig verrückten Weltbild.

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Ebenfalls nominiert ist der Text „Prana Extrem“ von Joshua Groß, der laut Jury der „Roman der Letzten Generation“ sein könnte: Es geht ums Skispringen im Treibhausklima, und das noch in einer „leuchtenden Sprache“.

Eine „humorvolle Fiktion“ soll der ebenfalls ausgewählte Roman „Aufklärung“ von Angela Steidele bieten, der im „männerdominierten Leipziger Geistesleben“ des 18. Jahrhunderts spielt.

Kategorie Übersetzung: „Wer hat Bambi getötet?“ von Monika Fagerholm

Lohnenswert ein Blick auf die Nominierungen in der Kategorie Übersetzung: Hier ist unter anderem der Roman „Wer hat Bambi getötet?“ der finnlandschwedischen Autorin Monika Fagerholm in der deutschen Fassung von Antje Rávik Strubel zu finden.

Schauplatz der düsteren Geschichte, die in den frühen 2000er Jahren spielt, ist ein gediegenes Villenviertel in Helsinki. Die Familienväter verdienen Unsummen in Politik und Wirtschaft; die Ehefrauen kümmern sich um karitative Aufgaben oder sind künstlerisch engagiert. Viel Zeit, sich um die Kinder zu kümmern, haben die Eltern nicht. Zwei der wohlstandsverwahrlosten Kids, nämlich Gusten und Nathan, gehören zu einer Gruppe, die ein Mädchen namens Sascha über Stunden hinweg vergewaltigen. Im Mittelpunkt der Geschichte stehen die Auswirkungen des Verbrechens auf die betroffenen Familien.

Der Stoff ist mit vielen Überblendungen und Ellipsen gestaltet, mit kurzen Schnitten, Satzabbrüchen, Klammerkonstruktionen, schnellen Dialogen, flirrenden Monologen. Die artifizielle Prosa ist von der Buchpreisgewinnerin Strubel tatsächlich kongenial ins Deutsche übertragen worden und stand auch schon auf Platz 1 der SWR Bestenliste.

Die Jury hat also durchweg belletristische Titel ausgewählt, die als ambitionierte Literaturkunst und weniger als Unterhaltungsprodukt gelten müssen. Das ist bei Auszeichnungen in dieser Größenordnung längst keine Selbstverständlichkeit mehr.

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