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Geovani Martins – Via Ápia

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AUTOR/IN
Victoria Eglau

2014 und 2016: Olympische Spiele und Fußball-WM in Brasilien. Im Vorfeld wollte die Polizei in Rio de Janeiro die wegen der Drogenkriminalität berüchtigten Armenviertel „befrieden“. Wie junge Menschen aus einer Favela diese gar nicht friedliche Zeit erlebt haben, davon handelt der Roman Via Ápia des jungen brasilianischen Autors Geovani Martins.

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Die Favelas von Rio de Janeiro sind so etwas wie blinde Flecken auf dem Stadtplan der cidade maravilhosa. „Wunderbare Stadt“, so wird die Küstenmetropole in Brasilien genannt. Aber ihre Armenviertel machen oft Negativ-Schlagzeilen – vor allem durch Schießereien unter Drogenbanden, Dealern und der Polizei. In Rocinha, einer der größten und ältesten Favelas von Rio, ist Geovani Martins aufgewachsen. Dort spielt auch sein erster Roman Vía Apia – benannt nach einer der wichtigsten Straßen des Viertels.

Die Befriedungspolizei sorgt in den Favelas für Ruhe

Der Roman ist zeitlich angesiedelt in den Jahren 2011 und 2012, bevor Brasilien die beiden Mega-Events Fußball-WM und Olympische Spiele ausrichtete. Eine sogenannte Befriedungspolizei sollte damals in den Favelas für Ruhe sorgen. Was das für die Bewohner bedeutete, erfahren wir jetzt in Vía Apia aus der Perspektive von fünf miteinander befreundeten jungen Männern: Douglas, Murilo, Biel und den Brüdern Washington und Wesley.

Eine der Hauptstärken des Romans sei hier bereits erwähnt: Geovani Martins nimmt uns mit in eine Lebenswelt, die auch in Brasilien selbst vielen Menschen verborgen ist. Denn wer nicht in der Favela wohnt, verirrt sich auch nicht dorthin. Martins aber nimmt uns nun mit und schildert Alltag, Sorgen und Sehnsüchte der Menschen hinter den Schlagzeilen.

Tatsächlich kreist das Leben der fünf Freunde oft um die Frage, wo sie den nächsten Joint herkriegen – und wie die Qualität des Grases ist. Manche nehmen auch stärkere Drogen, Wesley etwa kokst. Und während sein Bruder Washington einen festen Job in einem Restaurant außerhalb der Favela findet und sich dort bewährt, entgleitet Wesley langsam, aber sicher die Kontrolle über sein Leben.

Douglas wiederum zeichnet gerne und träumt davon, seinen Lebensunterhalt mit Tattoos zu verdienen. Die dafür notwendige Tätowier-Maschine schenkt ihm eines Tages sein Freund Biel, der am Strand Drogen verkauft. Murilo schließlich ist bei der Polizei und hat riesige Angst davor, dass man ihm befehlen könnte, in seiner eigenen Favela Jagd auf Dealer und Junkies zu machen.

Stress und Gewalt in den engen Gassen der Favela

Kaleidoskop-artig reiht der Autor kurze Kapitel aneinander, in denen mal die einen, mal die anderen Protagonisten im Mittelpunkt stehen. Allerdings schreibt Geovani Martins über ihr Leben nur auf einer narrativen Ebene, was die Lektüre phasenweise etwas eintönig macht – auf jeden Fall nicht so spannend, wie es bei dem Ort der Handlung und den Lebensumständen der Protagonisten zu erwarten wäre.

Der Roman besteht aus drei Teilen: Zuerst: Rocinha vor dem Einzug der Befriedungspolizei. Dann: die Favela, nachdem die Polizei dort die Kontrolle übernommen hat. Und schließlich: Das Viertel, nachdem sich das strenge Regiment der Polizisten wieder gelockert hat. Rocinha liegt, wie viele der Favelas von Rio, auf einem Hügel. In den darunter gelegenen Mittelklasse-Stadtteilen erhoffte man sich von der Befriedung mehr Sicherheit.

Martins schildert in seinem Roman, dass der Polizei-Einsatz allerdings den Favela-Bewohnern das Gegenteil von Frieden und Sicherheit gebracht hat. Die fünf Freunde erleben Stress und Gewalt, wenn sie in den engen Gassen ihres Viertels unterwegs sind. Von der Polizei ruppig behandelt oder sogar schikaniert zu werden, gehört zu ihrem Alltag. Und: Je dunkler die Hautfarbe, desto größer das Risiko, polizeiliche Willkür zu erleiden.

Starke Erzählmomente, aber zu wenig analytische Tiefe

Der Autor erzählt all dies ohne Anklage oder Empörung. Er vermittelt uns vielmehr die Gefühle der Protagonisten: Angst, Erniedrigung, Wut und schließlich Trauer und Ohnmacht, als es zur Katastrophe kommt: einer „verirrten Kugel“, wie es ja gerne auch abstrakt in Polizei-Statistiken oder Zeitungsnotizen heißt.

Eines der jungen Leben erlischt von jetzt auf gleich. Der absurde Tod, der die Verletzlichkeit der Favela-Bewohner zeigt, ist zweifellos der stärkste Moment des Romans. Ansonsten kiffen die Romanfiguren sehr viel, schauen Fußball oder hängen an der Playstation ab.

Das mag banal sein, ist aber zweifellos authentisch. Es liegt wohl vor allem an der linearen Erzählweise und den eher hölzernen Dialogen, dass die Geschichte nicht so fesselt und berührt, wie man es sich bei der brisanten und aktuellen Thematik wünschen würde.

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Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Lea Hübner
Reprodukt Verlag, 128 Seiten, 24 Euro
ISBN 978-3-95640-363-7

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