Ein Koffer mit geheimnisvollem Inhalt
Bei der Beerdigung ihres Vaters Donald wird Frances Stonor Saunders ein Koffer voller Briefe und Dokumente ausgehändigt. Der Vater war sein Leben lang von tiefer Trauer umgeben, und die Tochter fand keinen Zugang zu ihm. Dennoch will sie den Koffer, der ihm gehörte, nicht öffnen, weil sie befürchtet, es mit der Büchse der Pandora zu tun zu haben: Sein Inhalt könnte ihr Leben auf den Kopf stellen. Die schiere Existenz des Koffers aber zwingt sie, sich mit der eigenen Familiengeschichte zu befassen.
Diese Geschichte beginnt in den 1930er Jahren in Rumänien. Der polnisch-russisch-jüdische Großvater Joe Słomnicki arbeitet als Geologe auf den Ölfeldern der British Petroleum, Großmutter Elena hat österreichische und deutsche Wurzeln. Dank der Arbeit von Joe sind beide eingebürgerte Briten. Das wird ihnen später das Leben retten. Mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs hat der sorglose Alltag im Wohlstand für die beiden ein Ende. Hitler teilt die Ostgebiete neu auf, ständig werden Grenzen neu gezogen, aber Joe und Elena wollen bleiben, denn Rumänien ist ihre Heimat.
Willkürlich gezogene Grenzen
Der Autorin Frances Stonor Saunders geht es um die Willkür, mit der Grenzen aus politischen Gründen definiert werden, und um die Frage, die sich daraus für die Menschen ergibt: Wo komme ich eigentlich her? Stonor Saunders macht sich in Archiven und Zeitzeugnissen auf die Suche nach der europäischen Geschichte, die ihre Familie wie einen Spielball vor sich hergetrieben hat.
Akribisch recherchiert sie die politischen Verhältnisse und die ständigen überraschenden Wendungen während des Zweiten Weltkriegs: mit den Großeltern und ihrem Vater als Protagonisten. Sie imaginiert das anfangs großbürgerliche Leben in Bukarest, das sich zu einem Flüchtlings-Schicksal wandelt, und springt von historischen Fakten zu eigenen Erinnerungen. Die fehlende Chronologie macht die Lektüre des Buches ziemlich mühsam, zudem tauchen ständig neue verwandtschaftliche Seitenlinien auf. Die abgedruckten Familienfotos – beginnend mit dem dreijährigen Vater auf dem Töpfchen – sind eher unangenehm privat als erhellend.
Familiengeschichten werden ja oft als Selbstvergewisserung geschrieben, getrieben von der Frage: Wer bin ich? Dieses Buch gehört dazu. Es gibt sich leider wenig Mühe, seine Geschichte interessierten Lesern zu vermitteln. Ein wenig Distanz zum Stoff hätten Buch und Autorin gutgetan.
Aus einem Rumänen wird ein vorbildlicher Brite
Wir lesen eine der zahllosen Odysseen, die viele europäische Familien erlitten haben. Die beiden Söhne der Słomnickis gelangen irgendwann über die Türkei, Ägypten und Südafrika nach England, wo sie in ein privates Internat geschickt werden. Die Eltern gehen derweil zurück nach Rumänien, das sie später, verfolgt von der Securitate, nur in letzter Minute verlassen können. 1949 ändert Joe den Namen der Familie in Saunders. Sein achtzehnjähriger Sohn Donald hat nicht nur seine Heimat Rumänien, sondern auch seinen Namen verloren. Später wird er sich zu einem bilderbuchhaften Briten stylen, mit der traditionellen Kleidung seiner Klasse und dem richtigen Akzent. Äußerlich gehörte Frances Stonor Saunders’ Vater dazu, aber die Traurigkeit, die ihn umgab, erzählte eine andere Geschichte.
Wer sich für Rumänien interessiert, findet in diesem Buch gut recherchierte Fakten. Man kann es aber auch einfach als Roman lesen. Frances Stonor Saunders hat eine elegante und bildhafte Sprache, und der Schluss ist sowieso romanhaft: Sie wird – zumindest im Buch - den ominösen Koffer nicht öffnen. Das Geheimnis dieser Familiengeschichte bleibt trotz aller Fakten verborgen.