Platz 4 (40 Punkte)

Norbert Gstrein: Vier Tage, drei Nächte

Stand

Ines und Elias sind Halbgeschwister; er ist vier Monate älter als sie. Ines ist Literaturwissenschaftlerin; Elias arbeitet als Flugbegleiter. Oder auch „Luftkellnerin“, wie der Vater es abschätzig nennt. Der Vater ist eine monströse Figur. Ein Patriarch, der nur seine eigenen Regeln gelten lässt, Besitzer eines Luxushotels in Tirol. Was die da oben anordnen, schert ihn einen Dreck, auch in Zeiten der Corona-Pandemie. Ines Mutter wurde schwanger von ihm, als sie Urlaub im Hotel machte. Es gibt noch ein weiteres Geschwisterkind, die Tochter einer Küchenhilfe. Das ist eines von mehreren Familiengeheimnissen.

Norbert Gstrein ist ein Meister der vergifteten Intimität. Und mit diesem geradezu klaustrophobisch engen, streckenweise kammerspielähnlichen Roman hat er seinem Werk eine weitere Episode hinzugefügt, die von einer Gemengelage aus Schuld, Übertretung, unterdrückter Aggression und in weiten Satzperioden verschleierten Verfehlungen handelt. Immer geht es darum, wozu ein Mensch möglicherweise fähig ist. Und ob er sich dessen selbst bewusst ist. Ines und Elias verbindet ein inzestähnliches Verhältnis. Alles ist unklar, alles in der Schwebe, das aber perfekt orchestriert.

Toxisch ist hier jeder für den jeweils anderen. Dann tritt Carl auf, ein Kollege von Elias. Sein Geliebter? Ja, auch das. Und fast unmerklich dreht Gstrein die Perspektive des Romans. Plötzlich geht es um die drängenden diskursiven Fragen der Zeit: Welche Bedeutung hat die Sprecherposition? Wessen Worte haben mehr Geltung? Wer darf wessen Geschichte erzählen? Und wer zahlt wem etwas heim und wofür? Ein unheimliches Buch.

Stand
AUTOR/IN
SWR