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Andreas Schwab – Freiheit, Rausch und schwarze Katzen. Eine Geschichte der Boheme

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AUTOR/IN
Roman Kaiser-Mühlecker

Andreas Schwab führt leichtfüßig und klischeebefreit durch die europäische Bohèmeszene des Fin de siècle.

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„Leben, einzeln und frei wie ein Baum / doch brüderlich wie ein Wald“, dies sei „unsere Sehnsucht“, schrieb der türkische Dichter Nazim Hikmet in seinem bekanntesten Gedicht.

In besonderem Maße galt dies im 19. Jahrhundert für die transnationale Bewegung der Bohème. Ihre Mitglieder sahen und inszenierten sich zwar als Außenseiter, blühten aber vor allem in geselligen Runden auf.

Im Pariser Kabarett „Chat Noir“, oder im Berliner „Zum Schwarzen Ferkel“, wo sich Edvard Munch und August Strindberg in absinthgetränkter Atmosphäre die Nächte um die Ohren schlugen. Der unorthodoxe, freizügige Lebensstil dieser Künstlerinnen und Künstler erregte den Argwohn der bürgerlichen Schichten, auf deren Werte und Moralvorstellungen sie pfiffen.

Aber auch Karl Marx, der kärglich wie ein echter Bohemien lebte, hielt wenig von ihnen. Als „schnapslustiges Lumpenprolateriat“ bezeichnete er die Bohème, als „Auswurf, Abfall, Abhub aller Klassen“, der sich im schlimmsten Fall mit reaktionären Kreisen verbrüdern würde.

Neuromantische Gegenbewegung zum unerbittlichen Takt der Moderne

Ihre Blütezeit erlebte die Bohème um die Jahrhundertwende, am Fin de siècle, das sie kulturell entscheidend mitprägte. Genau diese Periode nimmt der Schweizer Historiker Andreas Schwab in seinem Buch „Freiheit, Rausch und schwarze Katzen“ in den Blick.

Schwab begreift die Bohème als antibürgerliche, „neoromantische Gegenbewegung zum unerbittlichen Takt der geschäftigen Moderne“. Als eine Art Widerstandsbewegung gegen alles „Gleichmacherische“ und Vereinheitlichende, worunter für viele auch der Sozialismus fiel.

Obwohl sich die Bohème von institutioneller Politik weitgehend fern hielt, öffnete ihr unkonventionelles Verständnis vom guten Leben Spielräume in vielen Bereichen. Ihre harsche Kritik an der bürgerlichen Scheinmoral und ihre Experimente auf den Feldern Ehe, Mutterschaft und Kindeserziehung schufen die Voraussetzungen für die spätere gesellschaftliche Liberalisierung.

Schwab schreibt:

In einer Welt im Umbruch wurden exzentrische Persönlichkeiten wie Franziska zu Reventlow oder Oscar Wilde, die sich von gesellschaftlichen Konventionen frei gemacht hatten, an die Oberfläche der gesellschaftlichen Wahrnehmung gespült. Aufmerksam registriert von vielen, lebten sie aus, was andere sich nicht trauten.

Marginalisierte Frauen im Fokus

Schwabs originelle Leistung besteht einerseits darin, dass er die Bohème von den sie umgebenden Mythen und Legenden befreit und auch ihre ambivalenten und dunklen Seiten beleuchtet: Ihr Desinteresse an konkreter politischer Gestaltung etwa, ihr hoffnungsvolles Warten auf einen „großen Knall“, ihre Arroganz gegenüber der Arbeiterbewegung, um nur einige Beispiele zu nennen.

Andererseits – die zweite originelle Leistung – rückt Schwab Frauen ins Zentrum seiner Darstellung, die bisher allzu oft lediglich als „Musen“ beschrieben worden sind. Zu nennen sind hier etwa die höchst erfolgreiche Varieté-Sängerin Yvette Guilbert, die avantgardistische Kinderbuchautorin Ida Dehmel, die Malerin Oda Krohg oder die streitbare Publizistin Laura Marholm.

Indem Schwab ebenso ausführlich aus ihren Werken zitiert wie aus jenen ihrer männlichen Kollegen, stellt er den Bohème-Kanon grundlegend in Frage. Trotz der Herablassungen, die ihnen aus Männerrunden entgegenschlugen, schufen die Bohemiennes dieser Zeit „hervorragende Werke“ und entwickelten „bemerkenswerte Gedanken“.

In der Wahl ihrer künstlerischen Mittel waren sie laut Schwab sogar freier als die Männer, die dem „lähmenden Konkurrenzdruck“ ausgesetzt waren.

Plastisches und klischeebefreites Epochenbild

Stellenweise geizt der Schweizer Autor und Kurator mit Hintergrundwissen, etwa zur Vorgeschichte der Bohème oder zu den sozioökonomischen Hintergründen seiner Protagonisten.

Manchmal wünscht man sich in diesem Text voller thematischer und räumlicher Sprünge auch eine klarere Ordnung anhand von Leitfragen. Aber das Fehlen akademischer Strenge macht auch den Reiz und den Charme von Schwabs sehr erzählerischer und assoziativer Darstellung aus.

„Freiheit, Rausch und schwarze Katzen“ ist ein leichtfüßiges und lebendiges Porträt der europäischen Bohèmeszene am Ende des 19. Jahrhunderts. Ein farbenfrohes „Flanierbuch“, das plastisch eine Epoche heraufbeschwört, ohne ein einziges Klischee zu bedienen.

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Roman Kaiser-Mühlecker