Ziel der Gendermedizin: Gesundheit für alle Geschlechter verbessern
Die Gendermedizin will Prävention, Diagnose und Behandlung für alle Geschlechter verbessern. Das ist leichter gesagt als getan, es fehlen oft schlicht die einfachsten Daten. Lange Zeit wurde in medizinischen Studien der vermeintliche Einheitsmensch untersucht: jung, weiß und vor allem männlich. Die Ergebnisse wurden einfach auf den Rest der Bevölkerung übertragen, Dosierungen für Medikamente Pi mal Daumen angepasst. Solche Fälle gibt es auch heute noch.
Die Berliner Oberärztin Vera Regitz-Zagrosek verweist auf eine Studie zu einem neuen Medikament für Herzinfarkte, veröffentlicht im November 2019 im renommierten New England Journal of Medicine. 80 Prozent der Probanden waren männlich, 20 Prozent weiblich. Es gab also Daten zu den Unterschieden der Geschlechter, doch die wurden im Hauptartikel gar nicht diskutiert.
Nebenwirkungen von Medikamenten sind bei Frauen doppelt so häufig
Für die renommierte Gendermedizinerin Vera Regitz-Zagrosek sind das keine Nebensächlichkeiten, denn der männliche Blick zumindest in der früheren Pharmaentwicklung hat extreme Konsequenzen: Nebenwirkungen von Medikamenten sind bei Frauen doppelt so häufig wie bei Männern. Und da geht es nicht nur um Kopfweh, sondern zum Teil um lebensbedrohliche Symptome. In den USA schätzen Experten, dass Medikamentennebenwirkungen die vierthäufigste Todesursache sind, noch vor Lungenkrankheiten oder Diabetes.
Das deutsche Arzneimittelgesetz verlangt seit 2004, dass Frauen und Männer in den großen Studien jeweils getrennt zu untersuchen sind. Nur sind die meisten der heute verordneten Medikamente schon vor 2004 zugelassen worden. Ob sie bei Frauen besondere Nebenwirkungen hervorrufen, ist daher häufig nicht bekannt. Und es scheint die Pharmafirmen nicht zu interessieren. Viele Ärzte und auch Ärztinnen haben das Problem noch gar nicht auf dem Schirm, fürchtet Vera Regitz-Zagrosek.
Studierende organisieren eigene Seminare zu Gendermedizin
Im Studium ist das Thema Gendermedizin im Lehrplan oft nicht vorgesehen. An vielen Universitäten nehmen die Studierenden die Sache selbst in die Hand und organisieren abseits des Lehrplans eigene Seminare und Fortbildungen zur Gendermedizin.
Erste Erfolge der Gendermedizin
Außerhalb der Universität hat sich schon einiges verändert: Studien für die Zulassung von Medikamenten müssen die Ergebnisse für Frauen und Männer getrennt ausweisen. In der Grundlagenforschung fordern viele wissenschaftliche Zeitschriften entsprechende Angaben in den Artikeln. Und auch bei der Behandlung in der Arztpraxis bewegt sich etwas. Bis 2010, das zeigte eine große Studie aus Florida, überlebten Frauen einen Herzinfarkt tatsächlich häufiger, wenn sie von einer Ärztin statt von einem Arzt behandelt wurden. Mittlerweile ist der Arztberuf weiblich; es studieren und praktizieren mehr Ärztinnen als Ärzte
Welche Symptome treten bei einem weiblichen Herzinfarkt auf?
Der sogenannte "Vernichtungsschmerz" auf der linken Seite, der bis in den Arm ausstrahlt und Todesangst auslösen kann, gilt als Leitsymptom beim Herzinfarkt. Doch Frauen zeigen häufiger Symptome, die unspezifisch wirken, so die Deutsche Herzstiftung:
- Kurzatmigkeit
- Atemnot
- Schweißausbrüche
- Rückenschmerzen
- Übelkeit
- Erbrechen
- Schmerzen im Oberbauch
- Ziehen in den Armen
- Unerklärliche Müdigkeit
- Depressionen
Für eine schnelle Hilfe müssten diese Symptome der Allgemeinheit und dem medizinischen Personal bekannt sein – das ist aber oft nicht der Fall. Konsequenz: Der weibliche Herzinfarkt wird später erkannt und später behandelt.
Gesamtgesellschaftlicher Gewinn: Gendermedizin untersucht alle Geschlechter
Oberärztin Vera Regitz-Zagrosek und andere Ärztinnen wollten das nicht länger hinnehmen. Ihr Ziel: Geschlecht aus der Nische der Gynäkologie und Andrologie herauszuholen. 2007 gründeten sie an der Charité Berlin das "Institut für Geschlechterforschung in der Medizin". Vor Kurzem übernahm Gertraud Stadler die Leitung.
Von Gendermedizin profitieren also keineswegs nur Frauen. Das gilt umso mehr für Personen, die sich nicht in die Kategorien Mann oder Frau einordnen lassen. Hier sieht Gertraud Stadler ein wichtiges Aufgabengebiet für die Zukunft. Derzeit konzentriert sich die Gendermedizin jedoch auf traditionelle Geschlechtsunterschiede.
Frauen sind medizinisch das starke Geschlecht
Frauen mögen weniger Muskeln haben, medizinisch gesehen sind sie aber das starke Geschlecht. Denn Männer haben nur ein X- und dafür noch ein Y-Chromosom. Aber das Y-Chromosom ist viel kleiner. Es enthält nur 86 Gene, die vor allem die Entwicklung Richtung Mann anstoßen. Auf dem X-Chromosom liegen dagegen um die 2.000 Gene. Wichtige Gene, die unter anderem das Immunsystem und die Gehirnentwicklung beeinflussen.
Doch Frauen sind hier nicht einfach nur quantitativ besser aufgestellt als Männer. Es gibt auch einen wichtigen qualitativen Unterschied: Die beiden X-Chromosomen einer Frau sind nicht identisch. In seinem Buch "Das stärkere Geschlecht" erklärt Sharon Moalem, warum das die wahre weibliche Superkraft darstellt:
Das stärkere weibliche Immunsystem geht offenbar auch effektiver gegen Krebsvorstufen vor. Eine wahre Superkraft.
Die Schwachstelle des weiblichen Immunsystems: Autoimmunkrankheiten
Doch wie im Comic hat jede Superheldin auch eine Schwachstelle: Autoimmunkrankheiten betreffen Frauen wesentlich häufiger als Männer. Frauen haben zwar in jedem Alter eine höhere Lebenserwartung als Männer. Aber unter anderem wegen der Neigung zu Autoimmunkrankheiten muss das nicht automatisch mit einer besseren Lebensqualität einhergehen.
Bei Covid-19 starben Frauen seltener als Männer, entwickeln aber doppelt so häufig Spätfolgen. Auch die Symptome und Hintergründe von Long Covid unterscheiden sich je nach Geschlecht: Männer behalten von der Erkrankung häufiger Organschäden zurück. Frauen kämpfen eher mit Schmerzen, kognitiven Problemen oder einer Belastungsintoleranz bis hin zum chronischen Erschöpfungssyndrom ME/CFS, der schwersten Ausprägung von Long Covid. Es gibt Hinweise, dass dahinter Fehlregulierungen des Immunsystems stehen. Und dass deshalb Frauen mit ihren zwei X-Chromosomen besonders anfällig sind.
Psychische Ursachen: bei Männern oft übersehen, bei Frauen überbetont
Die gesellschaftlichen Aspekte von Gender haben auch eine gesundheitliche Dimension: Frauen warten länger auf einen Termin beim Arzt. Männer gehen erst gar nicht hin, verdrängen scheinbare Wehwehchen. Oft sind es erst die Partnerinnen, die sie zum Doktor schicken und später auf die Einnahme der Medikamente achten. Und wenn Frau oder Mann beim passenden Facharzt oder der passenden Fachärztin sind, dann wirken die Geschlechterstereotype weiter, berichtet Gertraud Stadler:
Ein Teil der männlichen Suizide könnte wohl verhindert werden, wenn Mann und Arzt schneller an eine Depression denken würden. Und immer noch werden Bauchbeschwerden bei Frauen erst mal als psychosomatisch abgetan, obwohl vielleicht ein Geschwür oder eine chronische Entzündung dahintersteckt.
SWR 2020/2023