Warum ist der Dirigierberuf bis heute eine Domäne der Männer? Ein neues Buch geht mit Aufsätzen und Interviews dem Missstand auf den Grund – und legt erschreckende Mechanismen eines durch und durch verkrusteten patriarchalischen Systems offen. Unter Hannah Schmidts Leitung ist ein hochinteressantes und enorm wichtiges Buch entstanden – findet SWR2-Kritikerin Susanne Benda.
Warum lassen sich noch heute die Frauen am Pult an den Fingern von zwei Händen abzählen? Und warum reagieren viele von ihnen so gereizt, wenn man sie danach fragt, was sie anders machen als ihre männlichen Kollegen?
Diese und andere Fragen stellen die Autorinnen und Autoren der Aufsätze und die Interviewten im Buch „Dirigent*innen im Fokus“.
Stimmen weiterer Minderheiten im Klassik-Betrieb
Sie tun das aus unterschiedlichen Perspektiven: als Künstler, Manager, Funktionäre. Die Vielstimmigkeit ist die größte Qualität in diesem Buch, und zu dieser Vielstimmigkeit gehören auch Stimmen anderer Minderheiten im Klassik-Betrieb.
So kommen etwa auch non-binären Personen oder People of Colour zu Wort. Sie weiten den Blick des Buches über das Gender-Thema hinaus, und das macht die Sache noch spannender.
Macht im Klassik-Betrieb heißt: Männlichkeit
Skizziert wird ein durch und durch verkrusteter Betrieb rund um die klassische Musik und Macht heißt hier: Männlichkeit. Eigentlich müsste das Buch nicht „Dirigent*innen im Fokus“ heißen, sondern „Das Patriarchat im Fokus“.
Norbert Trawöger, unter anderem künstlerischer Leiter des Bruckner-Orchesters Linz, formuliert das so:
Wo man hinschaut: Männer
Allgemein wird festgestellt: Die Werke auf dem Spielplan wurden überwiegend von weißen Männern komponiert, Intendantenposten sind fast ausschließlich männlich besetzt, Solistenstellen im Orchester und leitende Funktionen im Betrieb überwiegend auch.
Gleiches gilt für die Gremien bei Aufnahmeprüfungen an Musikhochschulen, für Findungskommissionen und für Jurys. Orchester und Opernhäuser sind zudem streng hierarchisch organisiert.
Keine einfache Lösung in Sicht
Was ist zu tun? Eine einfache Lösung gibt es nicht, so die These des Buchs. Ein wachsendes Bewusstsein für die Problematik sei unerlässlich. Quoten könnten hilfreich sein, auch weibliche Vorbilder und Netzwerke.
Tatsächlich aber scheint das Thema „Frauen am Pult“ nur die Spitze des Eisbergs zu sein. Der Klassik-Betrieb als Ganzes müsse sich verändern, um in einer sich rasant wandelnden Gesellschaft nicht an Relevanz zu verlieren.
Flache Hierarchien, neues Musik-Repertoire
Dazu gehörten flache Hierarchien, demokratische Strukturen und ein Repertoire in Konzert- und Opernhäusern, das nicht nur Geschichten von überholten gesellschaftliche Ideen und Strukturen thematisiere.
Auf den Punkt bringt es der Komponist und Gitarrist Marc Sinan:
SWR2 Zur Person Marin Alsop: Eine der dienstältesten Dirigentinnen
Marin Alsop spricht darüber, wie sie sich als erste Frau am Pult der BBC Last Night of the Proms gefühlt hat und was für sie die besondere Herausforderung in ihrem Beruf ist.
Kommentar Wurde auch Zeit: Marie Jacquot leitet beim WDR als erste Frau ein Rundfunkorchester
Neue Chefdirigentin des WDR-Sinfonieorchesters wird Marie Jacquot. Sie ist die erste Frau auf diesem Posten bei einem Rundfunkorchester.
Buchkritik Maria Peters - Die Dirigentin
Die Niederländerin Antonia Brico dirigierte als erste Frau die Berliner Philharmoniker. Doch der Weg zum Dirigentenpult war lang und steinig. In den 20er und 30er Jahren des letzten Jahrhunderts hatten Frauen in der klassischen Musik nichts zu suchen. "Die Dirigentin" ist die mitreißende Lebensgeschichte einer kämpferischen Musikerin.
Rezension von Eva Karnofsky.
Aus dem Niederländischen von Stefan Wieczorek
Atlantik Verlag
ISBN 978-3-455-00960-6
336 Seiten
22 Euro