Schillerrede 2023

Literaturnobelpreisträger Abdulrazak Gurnah erinnert an „unerbitterliche Grausamkeit“ des deutschen Kolonialismus

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AUTOR/IN
Silke Arning

Das Leid, das den Menschen in Ostafrika durch europäische Kolonialinteressen zugefügt wurde, dürfe nicht verharmlost werden, mahnt Abdulrazak Gurnah. 30 Jahre Deutsch-Ostafrika bezeichnet der Literaturnobelpreisträger als eine historische Epoche schlimmster Gräueltaten. Die Verantwortung für dieses Unrecht zu übernehmen, sei der erste Schritt zu Verständnis und Versöhnung.

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Deutsch lernen mit Friedrich Schiller

Im Deutschen Literaturarchiv Marbach hat der in Tansania geborene, in England lebende Literaturnobelpreisträger Abdulrazak Gurnah die Schillerrede 2023 gehalten, die jährlich an den Geburtstag des Dichters Friedrich Schiller erinnert. Zu Friedrich Schiller hat Gurnah einen besondere Beziehung.

In seinem aktuellem Roman „Nachleben“ erhält der Protagonist der Geschichte, ein ostafrikanischer Soldat namens Hamza, ein Buch. Es ist ein Geschenk eines Offiziers der deutschen Besatzungstruppe: Schillers Musenalmanach für das Jahr 1798.

Verbrechen an den Menschen in Deutsch-Ostafrika

Mit Hilfe von Schillers Balladen über Tyrannei und Gerechtigkeit soll Hamza Deutsch lernen. Ein unerhörter Akt. Das könnte man geradezu als Beleidigung auffassen, meint Abdulrazak Gurnah in seiner Rede: Wie kann man einem afrikanischen Söldner Deutsch beibringen, damit er so etwas Raffiniertes wie die Poesie von Schiller lesen kann? 

Schiller und andere deutsche humanistische Geistesgrößen aber halten die Deutschen nicht davon ab, während ihrer Zeit als Kolonialmacht in Deutsch-Ostafrika schwerste Verbrechen an der einheimischen Bevölkerung zu begehen.

Kolonialherrschaft kaum aufgearbeitet

In seiner Schillerrede im Deutschen Literaturarchiv in Marbach erzählt Abdulrazak Gurnah von seinem Großonkel. Der hatte für die afrikanische Söldnerarmee der deutschen Besatzungstruppe gearbeitet und von den brutalen Strafen der Offiziere berichtet.

Abdulrazak Gurnah bei seiner Schillerrede in Marbach.
Abdulrazak Gurnah hat Schillers Gedichte als 15-jähriger gelesen.

Die Grausamkeit der deutschen Kolonialherren zeigt sich auch bei der Niederschlagung des Maji-Maji-Aufstandes 1905, dem 75.000 Einheimische zum Opfer fallen. Noch sehr viel höher sind die Opferzahlen zehn Jahre später während des ersten Weltkriegs.

300.000 afrikanische Zivilistinnen und Zivilisten kamen durch Krieg, Zwangsarbeit und Hunger ums Leben. An all diese Schrecken erinnert der Literaturnobelpreisträger in seiner Rede: „Es ist bedauerlich, dass diese historische Episode in den Ländern, die diese schlimmsten Gräueltaten begangen haben, nämlich Deutschland und England, kaum bekannt sind“, so Gurnah. 

Leid dürfe nicht vergessen werden

Den Gründen für diese „unerbittliche Grausamkeit“ habe er in seinem Roman „Nachleben“ nachgehen wollen. Dabei kam Abdulrazak Gurnah Schiller in den Sinn, dessen Gedichte er als 15-jähriger Teenager gelesen hat. Schillers lyrische Melancholie hat ihm einen Weg gezeigt, seine Geschichte über die deutsche Kolonialherrschaft, über Rassismus und Gewalt zu erzählen.

Der in Tansania geborene Literaturnobelpreisträger mahnt: Das Leid, das den Menschen in Ostafrika zugefügt wurde, dürfe nicht vergessen, nicht verharmlost werden: „Ich bin davon überzeugt, dass die Übernahme dieser historischen Verantwortung für Unrecht der erste Schritt zur Verständigung und Versöhnung ist.

Bücher von Abdulrazak Gurnah

SWR2 lesenswert Kritik Abdulrazak Gurnah – Die Abtrünnigen

Verbotene Liebe im kolonialen Ostafrika: In seinem Roman „Die Abtrünnigen“ erzählt Literaturnobelpreisträger Abdulrazak Gurnah von zwei skandalösen und daher unglücklichen Lieben. Und er erzählt von einer Migration von Sansibar nach England und dem damit verbundenen Trennungsschmerz.

Aus dem Englischen von Stefanie Schaffer-de Vries
Penguin Verlag, 396 Seiten, 22 Euro
ISBN 978-3-328-60261-3

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Silke Arning