Literaturnobelpreis 2023

Denis Scheck über Nobelpreisträger Jon Fosse: Der mit dem ganz besonderen Beckett-Trick

Stand
INTERVIEW
Jan Tussing

Die Auszeichnung Jon Fosses mit dem Literaturnobelpreis hält Literaturkritiker Denis Scheck für eine kluge Wahl. Vor zehn Jahren, als der Theaterautor auf dem Höhepunkt seines Erfolgs war, wäre sie aber noch klüger gewesen.

Audio herunterladen (6,7 MB | MP3)

Die Stärke bei Fosse liegt in der Verzögerung

Gelobt wurden von der Akademie die Theaterstücke Fosses, deren Innovation Denis Scheck erklärt: „Jon Fosse ist jemand, der einen ganz besonderen Trick beherrscht, wie Samuel Beckett oder Franz Kafka beispielsweise“. Laut Scheck liegt die Stärke Fosses vor allem in der Verzögerung. Seine Werke leben von der Pause, der Lakune und Variation.

„X bricht ab“ ist etwa der meist geschriebene Satz in den Stücken Fosses, erklärt Scheck.

Dennoch dürfe man auch die Romane des 64-jährigen Norwegers nicht vergessen. Auch die Figuren in Jon Fosses Romanen werden immer ans Verstummen geführt, gleiche Elemente werden neu rekombiniert. So gelinge es dem norwegischen Autoren, eine Welt von Emotionen zum Vorschein zu bringen, von der man vorher nichts geahnt habe.

Eine neue, düstere Weltsicht

In der Begründung der schwedischen Akademie ist gar von einer Verwandtschaft zu Beckett die Rede. „Wer einmal ein Stück von Samuel Beckett gesehen hat, der erfährt eine Veränderung in seiner Weltanschauung“, so Denis Scheck – das gelte auch für Jon Fosse.

Fosse, der über vierzig Dramen und zahlreiche Romane geschrieben hat, gilt als besonders produktiver Autor. Doch seine Romane haben es in sich: Immer wieder konfrontiert Fosse den Leser mit dem brutalen Faktum, dass wir einsam diese Welt betreten und genauso einsam und allein wieder aus ihr herausgehen.

Laut Scheck liefert Fosse auf diese Weise eine neue Sicht auf das menschliche Leben. Keine erfreuliche, mehr eine düstere. Immer wieder siedelt er die Figuren dicht am Rande des Wahnsinns oder kurz vor dem Suizid an, so Scheck.

Einstieg für Neulinge

Als Einstieg für Fosse-Neulinge empfiehlt der Literaturkritiker einen Roman, den er vor zwanzig Jahren im Mare Verlag selbst verlegte: „Das ist Alise“ heißt die 120 Seiten kurze Novelle, die laut Scheck eine Reduktion aller großen Themen des Norwegers beinhaltet.

Zwar passiere in Sachen Handlung nicht viel, es geht um eine Familienaufstellung mit Stimmen, die eine Ahnenreihe bilden. Doch wie die Stimmen ihr Handeln begründen, meint Denis Scheck, das sei große Weltliteratur. Wie viele der Werke von Jon Fosse wurde auch „Das ist Alise“ von Hinrich Schmidt-Henkel übersetzt.

Buch der Woche Jon Fosse - Der andere Name

Maler Asle und sein dunkles Alter Ego sind in den norwegischen Fjorden gefangen zwischen Gegenwart und Vergangenheit, Vorstellung und Wirklichkeit. Tag und Traum vermischen sich zu einer Erzählung von Schmerz und Erlösung.

SWR2 lesenswert Magazin SWR2

Mehr von Denis Scheck:

Literaturkritik „Wenn Blicke töten könnten, wäre ich längst nicht mehr am Leben" – Der Literaturkritiker Denis Scheck

Deutschlands bekanntester Literaturkritiker weiß, was er tut. Seine Motivation: „Den guten Büchern Aufmerksamkeit sichern und wie eine Art Stiftung Warentest vor schlechten warnen". Selbiges sollte für schlechte Brötchen, Schuhe und Hosen gelten, sagt er.

SWR2 am Samstagnachmittag SWR2

SWR2 Vor Ort: Gespräch Lesenswert Quartett mit Denis Scheck

Vier aktuelle Bücher, vier meinungsstarke Leser*innen und ein reger Austausch
Denis Scheck, Insa Wilke, Ijoma Mangold und zu Gast ist dieses Mal der Autor Senthuran Varatharajah

SWR2 lesenswert Quartett SWR2

Literatur Ein Werk von titanischem Ausmaß - Literaturkritiker Denis Scheck zum Tod von Martin Walser

Er sei der bedeutendste Schriftsteller der westdeutschen Bundesrepublik gewesen, sagt der Literaturkritiker Denis Scheck zu Martin Walser, der am 28. Juli 2023 Im Alter von 96 Jahren gestorben ist. Walser sei von Beginn an der „große Chronist der jungen Bundesrepublik" nach dem Krieg gewesen und das habe bis in die Gegenwart angehalten.

SWR2 Journal am Morgen SWR2