Die Auszeichnung Jon Fosses mit dem Literaturnobelpreis hält Literaturkritiker Denis Scheck für eine kluge Wahl. Vor zehn Jahren, als der Theaterautor auf dem Höhepunkt seines Erfolgs war, wäre sie aber noch klüger gewesen.
Die Stärke bei Fosse liegt in der Verzögerung
Gelobt wurden von der Akademie die Theaterstücke Fosses, deren Innovation Denis Scheck erklärt: „Jon Fosse ist jemand, der einen ganz besonderen Trick beherrscht, wie Samuel Beckett oder Franz Kafka beispielsweise“. Laut Scheck liegt die Stärke Fosses vor allem in der Verzögerung. Seine Werke leben von der Pause, der Lakune und Variation.
„X bricht ab“ ist etwa der meist geschriebene Satz in den Stücken Fosses, erklärt Scheck.
Dennoch dürfe man auch die Romane des 64-jährigen Norwegers nicht vergessen. Auch die Figuren in Jon Fosses Romanen werden immer ans Verstummen geführt, gleiche Elemente werden neu rekombiniert. So gelinge es dem norwegischen Autoren, eine Welt von Emotionen zum Vorschein zu bringen, von der man vorher nichts geahnt habe.
Eine neue, düstere Weltsicht
In der Begründung der schwedischen Akademie ist gar von einer Verwandtschaft zu Beckett die Rede. „Wer einmal ein Stück von Samuel Beckett gesehen hat, der erfährt eine Veränderung in seiner Weltanschauung“, so Denis Scheck – das gelte auch für Jon Fosse.
Fosse, der über vierzig Dramen und zahlreiche Romane geschrieben hat, gilt als besonders produktiver Autor. Doch seine Romane haben es in sich: Immer wieder konfrontiert Fosse den Leser mit dem brutalen Faktum, dass wir einsam diese Welt betreten und genauso einsam und allein wieder aus ihr herausgehen.
Laut Scheck liefert Fosse auf diese Weise eine neue Sicht auf das menschliche Leben. Keine erfreuliche, mehr eine düstere. Immer wieder siedelt er die Figuren dicht am Rande des Wahnsinns oder kurz vor dem Suizid an, so Scheck.
Einstieg für Neulinge
Als Einstieg für Fosse-Neulinge empfiehlt der Literaturkritiker einen Roman, den er vor zwanzig Jahren im Mare Verlag selbst verlegte: „Das ist Alise“ heißt die 120 Seiten kurze Novelle, die laut Scheck eine Reduktion aller großen Themen des Norwegers beinhaltet.
Zwar passiere in Sachen Handlung nicht viel, es geht um eine Familienaufstellung mit Stimmen, die eine Ahnenreihe bilden. Doch wie die Stimmen ihr Handeln begründen, meint Denis Scheck, das sei große Weltliteratur. Wie viele der Werke von Jon Fosse wurde auch „Das ist Alise“ von Hinrich Schmidt-Henkel übersetzt.
Nobelpreis 2023 Jon Fosse erhält den Literaturnobelpreis 2023
Der norwegische Autor Jon Fosse erhält den Literaturnobelpreis 2023. Das gab die Schwedische Akademie am Donnerstag in Stockholm bekannt.
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