Symbolbild Telefonseelsorge

Suizidgedanken nehmen zu

Telefonseelsorge: Energiekrise lässt Ängste der Menschen wachsen

Stand
Autor/in
Andrea Meisberger
Andrea Meisberger: Multimediale Reporterin SWR Studio Trier

Zuerst die Coronakrise, dann die Energiekrise. Immer mehr Menschen sind verzweifelt, sagt Bernd Steinmetz, Leiter der Telefonseelsorge Trier.

SWR Aktuell: Herr Steinmetz, wie hat sich das Anruferverhalten bei der Telefonseelsorge durch die Energiekrise und die steigenden Kosten verändert?

Bernd Steinmetz: Ich würde sagen, dass für einen Großteil der Anrufer die Problembelastung größer geworden ist. Sie sind verzweifelter. Und es ist ja auch eine Verunsicherung, die sich breit macht. Da braucht es dann doch wieder Unterstützung. Da ist dann oft auch eine Ansprache nötig, dass sich die Betroffenen ja auch noch auf sich und auf ihre Selbstheilungskräfte und auf ihre Ressourcen besinnen.

Altersstruktur der Anruferinnen und Anrufer hat sich geändert

Der Anteil der Alleinstehenden, die anrufen, der hat in diesem Jahr durch die Existenzsorgen noch mal deutlich zugenommen. Und es hat sich auch in der Altersstruktur etwas geändert. Es sind jetzt viel mehr 50- bis 59-Jährige, die sich eigentlich rund um die Uhr bei uns melden. Die Zahlen bei ganz jungen Menschen, bis 30 Jahre, sind gleich geblieben. Da spielt vor allem eine zukunftsbezogene Verzweiflung eine Rolle.

SWR Aktuell: Es folgt eine Krise auf die Nächste. Zuerst Corona und dann die Energiekrise und die damit verbundene Inflation. Welche Bedeutung hat das?

Steinmetz: Es gibt einen Begriff, den ein bekannter Trauma-Experte in die Welt gesetzt hat. Er hat von einer prätraumatischen Wolke geredet und ich finde dieses Bild eigentlich ziemlich treffend. Wenn Menschen so stark belastet sind und noch ein Ereignis hinzukommt, sei es im privaten Bereich, ein Unfall oder ein anderes Geschehen, fehlen ihnen oft die Kräfte, das noch zu bewältigen.

"Die Betroffenen sagen dann: Wir sind am Limit und kommen nicht mehr weiter."

Es gibt jetzt noch mal mehr Wiederholungen. Anrufer, also Menschen, die nicht zum ersten Mal anrufen, sondern die regelmäßig den Kontakt zur Telefonseelsorge suchen. Und das ist sowohl jetzt bei Jüngeren als auch bei Älteren, die häufiger einen Kontakt brauchen, wo sie sich noch mal sortieren können und noch mehr Mut ins Leben fassen.

Menschen haben häufiger Suizidgedanken

Ein weiterer Aspekt ist die Suizidalität. Diese hat vom ersten Quartal bis zum Dritten deutlich zugenommen. Unter Suizidalität fassen wir, dass Menschen lebensmüde sind, Suizidgedanken und sogar Suizidabsichten äußern. Oder dass sie Suizide erlebt haben. Und das ist jetzt vom ersten bis zum dritten Quartal diesen Jahres von sieben auf zehn Prozent gestiegen.

"Das ist für mich ein Warnsignal und ein klares Indiz, dass die Verzweiflung bei den Menschen zunimmt."

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Besonders Alleinstehende rufen bei Telefonseelsorge an

SWR Aktuell: Welche konkreten Sorgen haben die Menschen, die bei Ihnen anrufen?

Steinmetz: Das sind ganz verschiedene Aspekte. Besonders Alleinstehende haben große Sorgen. Sie fühlen sich völlig isoliert. Diese Verunsicherung, die ich in den Gesprächen gemeldet bekomme, führt auch in vielen Fällen dazu, dass man sich gar nicht mehr darauf besinnt, wo man auch Hilfe bekommen kann. Stattdessen sind viele durch die allgemeine Stimmung so niedergeschlagen, dass es in Richtung Verzweiflung geht.

Und dann wird im Laufe des Gesprächs aber oft sichtbar, dass es doch im Umfeld auch Menschen gibt, die für sie offen sind. Aber sie haben das im eigenen Stress, in der eigenen Erschöpfung gar nicht mehr wahrgenommen.

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Gespräche auch für Mitarbeitende herausfordernd und belastend

SWR Aktuell: Erst Corona, jetzt die Energiekrise. Welche Herausforderungen bringt das für Sie als Telefonseelsorge?

Steinmetz: Teilweise ist es schon für unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter belastend. Besonders in Gesprächen, wo sie auch merken, hier sehen wir jetzt kaum Hilfsmöglichkeiten. Das ist dann sehr belastend.

"Denn gerade bei jungen Menschen, hört man, wir haben keinen Mut in die Zukunft, das können auch die Kolleginnen und Kollegen eigentlich schwer verkraften."

Hinzu kommt, dass mittlerweile die Probleme dichter sind und das zu längeren Gesprächen führt. Dadurch sind wir natürlich auch schlechter erreichbar. Also über die Hälfte aller Gespräche dauert eine halbe Stunde und länger. Vorher waren es rund 20 Minuten im Durchschnitt. Und das heißt, in der Zeit haben andere, die aktuell eine Krise haben, eine schlechtere Chance, einfach einen Ansprechpartner oder eine Ansprechpartnerin zu finden.

"Das Telefon klingelt auch rund um die Uhr. Man hat das Gefühl, die Menschen rufen nachts an, weil sie schlecht durch den Tag gekommen sind."

Telefonseelsorge hilft bei der Suche nach Problemlösungen

SWR Aktuell: Welche Hilfestellungen bietet die Telefonseelsorge neben einem offenen Ohr den Anruferinnen und Anrufern?

Steinmetz: Genau das ist ein ganz wichtiger Aspekt. Wir übernehmen eine Art Lotsenfunktion. Wir sind für viele die erste Anlaufstelle. Auch, weil diese Anonymität das erlaubt, offen über das zu reden, wo man sonst vielleicht Scham hat oder Scheu, es anzusprechen. Und wir stellen schon fest, wenn es um das Thema Existenzsorgen geht, dass viele Menschen doch wenig Informationen haben, wie sie sich zum Beispiel über die Verbraucherberatung, aber auch über Sozialverwaltung und Arbeitsverwaltung Unterstützung holen können.