Die Inschrift „Arbeit macht frei“ auf einem Tor am Eingang der KZ-Gedenkstätte Dachau (Foto: picture-alliance / Reportdienste, Picture Alliance)

Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus

Verleugnete NS-Opfer: Das Schicksal der "Asozialen" und "Berufsverbrecher"

Stand

Am 27. Januar 1945 befreite die Rote Armee das Vernichtungslager Auschwitz. Deshalb wird an diesem Tag der Opfer des Nationalsozialismus gedacht. Der rheinland-pfälzische Landtag erinnert in diesem Jahr besonders an die als "Asoziale" und "Berufsverbrecher" verfolgten Menschen.

Wen verfolgten die Nazis als sogenannte „Asoziale“ und Berufsverbrecher?

Fürsorgeempfänger, Bettler, Wohnungslose und Prostituierte gehörten zu den Menschen, die im NS-Regime als "asozial" stigmatisiert und verfolgt wurden. Der Begriff war allerdings nicht genau definiert und konnte willkürlich auf neue Personengruppen ausgeweitet werden, die nicht in das Menschenbild der Nazis passten. Nach einer Durchführungsverordnung von 1938 galt als "asozial", wer "durch gemeinschaftswidriges, wenn auch nicht verbrecherisches Verhalten zeigt, dass er sich nicht in die Gemeinschaft einfügen will."

Auch in den ersten Jahren nach der Machtergreifung durch die Nazis wurde etwa gegen arme Menschen vorgegangen. Zurückgegriffen wurde dabei zum Beispiel auf die sogenannte Arbeitshauseinweisung, die bereits in der Weimarer Republik möglich war. Dort wurde sie aber nur marginal angewandt. Daneben traten Maßnahmen wie „Schutzhaft“ oder „Vorbeugehaft“.

Video herunterladen (135,6 MB | MP4)

„Es hat teilweise schon gereicht, wenn jemand die Bettwäsche, die er vom Winterhilfswerk bekommen hat, weiterverkauft hat, um ihn in der Zeitung öffentlich als unwürdigen Armen zu diffamieren und in „Schutzhaft“ zu nehmen", erklärt Miriam Breß vom Institut für Geschichtliche Landeskunde in Mainz.

Als "Berufsverbrecher" galt eine Person, die innerhalb von fünf Jahren mindestens dreimal zu einer sechsmonatigen Freiheitsstrafe verurteilt worden war - meist wegen kleinerer Eigentumsdelikte wie Einbruch, Diebstahl, Betrug, oder Hehlerei. Zentrales Kriterium war offiziell, dass die Delikte aus "Gewinnsucht" begangen wurden.

Wer "arbeitsscheu" war, wer "asozial" war, wer sich "gemeinschaftsschädigend" verhalten hat, das haben die Nazis und andere Tätergruppen definiert.

Warum wurden sogenannte "Asoziale" und "Berufsverbrecher" verfolgt?

Die NSDAP propagierte eine rassistische und antisemitische Volksgemeinschaft. Aus dieser wurden deutsche Juden, deutsche Sinti und deutsche Roma per se ausgeschlossen. "Asoziale" und "Berufsverbrecher" wurden zu "Gemeinschaftsfremden" erklärt. Sie galten z.b. als „minderwertig“ und „arbeitsscheu“. Aufgrund "rassenhygienischer" Vorstellungen sollte verhindert werden, dass sie ihre angeblich "asozialen" und "kriminellen Gene" weitervererben. Viele Betroffene wurden zwangssterilisiert. Ab Mitte der Dreißiger Jahre wurden sie in die Konzentrationslager verschleppt.

Ähnliches galt für als "Berufsverbrecher" stigmatisierte Personen. Sie besaßen in der Vorstellung der Nazis "kriminelle Gene".

Was passierte mit den Verfolgten?

Die Verfolgung von als "asozial" diffamierten Menschen wurde nicht nur von oben angeordnet, sondern auch auf lokaler Ebene vorangetrieben. "Auf der Täterseite stehen Wohlfahrtsämter, die sich bestimmter Personen entledigen wollten, aber auch Polizeibeamte. Die Täterkreise waren breit“, so Miriam Breß. Betroffene wurden amtlich registriert und polizeilich überwacht.

Die Verfolgung verlief in Etappen und verschärfte sich im Laufe der Jahre. Ab 1937 war die "Vorbeugehaft" auch bei "Asozialen" und nicht mehr nur bei "Gewohnheits- und Berufsverbrechern" möglich. In den Konzentrationslagern mussten Erstere einen schwarzen, Letztere einen grünen Winkel zur Wiedererkennung auf ihrer Häftlingskleidung tragen.

Wie viele Menschen wurden als "Asoziale" und "Berufsverbrecher" in KZ interniert?

Bis heute ist unklar, wie viele Menschen als sogenannte "Asoziale" und "Berufsverbrecher" in den Konzentrationslagern inhaftiert waren. Schätzungen gehen von ca. 70.000 Menschen aus, vorwiegend aus Deutschland, aber auch aus den besetzten Gebieten. Auch die genauen Todeszahlen sind unbekannt. Einzelne Fallstudien zeigen jedoch, dass die Todesrate insbesondere unter den als "asozial" stigmatisierten Menschen sehr hoch war.

Allein bei der zwischen dem 13. und 18. Juni 1938 durchgeführten Massenverhaftungsaktion "Arbeitsscheu Reich" wurden mehr als 10.000 als "asozial" eingestufte Menschen verhaftet und in Konzentrationslager verschleppt. Ins KZ Sachsenhausen wurden rund 6.000 Verhaftete gebracht.

Warum wurden sie nach 1945 nicht offiziell als Opfer anerkannt?

Die als "Asoziale" und "Berufsverbrecher" verfolgten Überlebenden erhielten nach 1945 jahrzehntelang keine Entschädigung und wurden nicht als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt. Auch nach Kriegsende waren sie vielen Vorurteilen ausgesetzt. Sie galten als zu Recht von den Nazis verfolgt. „Auch die Täter von damals, also unter anderem Polizei-, Verwaltungs- oder Justizbeamte, wollten ihre Beteiligung leugnen oder verharmlosen. Dafür diffamierten sie ehemals Verfolgte weiterhin, stellten sie als selbst schuld, als kriminell, als "arbeitsscheu" und die Verfolgung als nicht NS-spezifisch" dar, erklärt Breß.

Die ‚Wiedergutmachung‘ nach 1945 war geprägt vom Ausschluss vieler Opfergruppen.

Zudem fiel es diesen Menschen schwer, sich als eine Verfolgtengruppe zu verstehen und gemeinsame Entschädigungsansprüche zu formulieren: Zu unterschiedlich waren die Lebens- und Arbeitsumstände der Betroffenen, die zur Deportation in ein Konzentrationslager geführt hatten. Oft schwiegen die Betroffenen und Angehörigen auch aus Scham aufgrund der weiterhin vorhandenen gesellschaftlichen Stigmatisierung.

Wie kam es 2020 zur Anerkennung durch den Deutschen Bundestag?

Es dauerte bis zum Jahr 2020, bis der Deutsche Bundestag auch die als „Asoziale“ und "Berufsverbrecher" Verfolgten offiziell als NS-Opfer anerkannte. Zu verdanken ist das dem Angehörigen und Sozialwissenschaftler Frank Nonnemacher, der zusammen mit jungen Forschenden eine Online-Petition startete. Nach Verhandlungen im Ausschuss für Kultur und Medien stimmten am 13. Februar 2020 alle Fraktionen, außer der AfD, dem Antrag der großen Koalition zu. Der zentrale Satz:

Niemand wurde zu Recht in einem Konzentrationslager inhaftiert, gequält und ermordet.

Wie wird heute an die verleugneten NS-Opfer gedacht?

Zusammen mit der Aktivistin Ines Eichmüller und anderen Nachkommen gründete Frank Nonnenmacher im Januar 2023 den "Verband für das Erinnern an die verleugneten Opfer des Nationalsozialismus". Er bietet Angehörigen die Möglichkeit des Austauschs und setzt sich dafür ein, dass alle bisher noch nicht wahrgenommen Opfergruppen einen Platz in der deutschen Erinnerungskultur erhalten. Der Verband fordert unter anderem ein zentrales Mahnmal in Berlin.

Am 11. Dezember 2023 stellte die CDU/CSU-Fraktion im Bundestag eine "kleine Anfrage". Sie wollte wissen, wie der Bundestagsbeschluss zur Anerkennung der sogenannten "Asozialen" und "Berufsverbrecher" als Opfer des Nationalsozialismus umgesetzt werde. Am 3. Januar 2024 antwortete die Bundesregierung. Sie weist unter anderem darauf hin, dass sich die KZ-Gedenkstätten jetzt stärker dieser Opfergruppe widmen und dass ein modulares Ausstellungskonzept erarbeitet werde. Die Ausstellung solle ab Ende September 2024 in Berlin zu sehen sein, weitere Orte sollen folgen. Zusätzliche Fördermittel zur Erforschung der Thematik hält die Regierung erklärtermaßen nicht für notwendig. Der Verband für das Erinnern an die verleugneten Opfer des Nationalsozialismus "Vevon" zeigte sich in einer Stellungnahme enttäuscht. Die Antwort der Bundesregierung zeige, dass faktisch kaum etwas passiert sei.

Als "Asoziale" und "Berufsverbrecher" verfolgt RLP-Landtag gedachte der Opfer des Nationalsozialismus

Der rheinland-pfälzische Landtag hat am Samstag der Opfer des Nationalsozialismus gedacht. Landtagspräsident Hendrik Hering (SPD) rief zum Einstehen für Demokratie auf.

Aktuell um 12 SWR1 Rheinland-Pfalz

Trier

Trierer überlebte Holocaust Holocaust-Gedenktag: Trierer Sinto spricht vor UNO in New York

Der Trierer Sinto Christian Pfeil hat als Überlebender des Holocaust vor der UNO gesprochen. Pfeil ist 1944 im Ghetto Lublin im besetzten Polen zur Welt gekommen.

SWR4 RP am Morgen SWR4 Rheinland-Pfalz

Stand
AUTOR/IN
SWR