EU-eigene Atomwaffen? „Entscheidung nur, wenn US-Beistand völlig auseinanderfällt“

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Jan-Frederic Willems

Nachdem Donald Trump für den Fall seiner Wiederwahl den Schutz der USA für die NATO-Partner in Frage stellt, wird in Europa über Reaktionen diskutiert. Dabei geht es auch um die Frage, ob die europäischen Staaten eigene Atomwaffen brauchen – die haben bislang nur Frankreich und Großbritannien. Aber sind wir überhaupt schon an dem Punkt, dass wir uns ernsthaft darüber Gedanken machen sollten? Darüber hat SWR-Aktuell-Moderator Jan-Frederic Willems mit Liviu Horovitz gesprochen, er ist Sicherheitsexperte bei der Stiftung Wissenschaft und Politik mit dem Schwerpunkt „Nukleare Bedrohung und Abschreckung“.

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SWR Aktuell: Das letzte nukleare Wettrüsten ist gerade mal 30, 40 Jahre vorbei. Ist es eine gute Idee, jetzt wieder damit anzufangen?

Liviu Horovitz: Nein, das ist keine gute Idee. Es geht auch um die Frage, was man machen kann, was man machen muss. Das sind Szenarien, die sehr, sehr unwahrscheinlich sind, die jetzt diskutiert werden. Und man springt direkt dann in Lösungen, die sehr, sehr schwierig sind. Das ist alles etwas diffus, was man da hört.

SWR Aktuell: Was empfehlen Sie also den Diskussionsteilnehmern, die ja nicht alle Atomwaffenexperten sind, für diese Debatte?

Horovitz: Ich glaube, es gibt zwei unterschiedlichen Debatten. Die eine Debatte ist eine Policy-Debatte, die findet zwischen der französischen und der deutschen Regierung statt, und da sind auch andere Regierungen in Europa dabei. Da geht es eher darum, ob Frankreich eine zusätzliche Rolle zu der der Amerikaner im Nuklearbereich spielen kann. Und wie könnte man das organisieren? Aber es geht um eine eher politisch und technisch bescheidene Rolle, darüber hat man sich ja jetzt ein paar Jahre immer wieder ausgetauscht. Es gibt immer Angebote von Macron aus Paris: Man solle bitte mehr darüber reden. Und parallel dazu ist halt diese eher mediale Debatte: Da spricht Trump etwas, und dann sagen irgendwelche Politiker aus Europa, sei es aus Deutschland aus anderen Ländern: Wir brauchen jetzt die deutsche oder europäische Atomwaffe, wir brauchen ein Arsenal. Ich glaube, die zwei haben wenig miteinander zu tun. Die Unterschiede sind sehr groß.

SWR Aktuell: Dann reden wir doch mal über die Machbarkeit. Sie haben vor ziemlich genau einem Jahr geschrieben, dass die Schritte hin zu einem europäischen Nuklearschirm erstmal unwahrscheinlich seien. Sieht es heute ein Jahr später, nach einem weiteren Jahr Ukraine-Krieg, anders aus?

Horovitz: Das sieht noch ähnlich aus, einfach weil die Schritte so unglaublich massiv sind. Es geht nicht nur um Technik und Geld. Man müsste die Arsenale der zwei Nuklearwaffenstaaten, die es in Europa gibt, Frankreich und Großbritannien, ausweiten: Nicht nur mehr Waffen, sondern auch unterschiedliche Waffen und unterschiedliche Trägersysteme, das ist die technische Komponente. Dann gibt es noch eine finanzielle Komponente. Wer soll das alles bezahlen? Aber das ist nicht mal das Wichtigste, sondern das Wichtigste ist die politische Komponente. Wie sieht das aus? Wie organisieren wir das? Wer hat Kontrolle über diese Waffen? Und all diese Fragen sind so unglaublich schwierig sind. Es macht Sinn, sich da Gedanken zu machen. Und es macht wahrscheinlich Sinn, dass sich hinter verschlossenen Türen die Regierungen im Klaren sind, was das alles überhaupt heißt. Am Ende werden politische Entscheidungen in diesem Bereich nur dann fallen, wenn die amerikanischen Rückversicherungs-Angebote dann völlig auseinanderfallen.

SWR Aktuell: Um jetzt mal des Teufels Anwalt zu spielen: Müssen wir nicht auch zugeben, dass es auch relativ komfortabel war zu sagen, der große Bruder, die USA, schützen uns mit ihren Atomwaffen. Wir müssen uns selbst nicht die Hände schmutzig machen…

Horovitz: Natürlich ist es bis zu einem gewissen Grad komfortabel. Wir müssen uns aber auch bewusst sein: Die Amerikaner haben das noch nie "for free" gemacht, es ist kein "free lunch", sondern eine amerikanisch konstruierte und dominierte Ordnung. Die haben sie nach dem Zweiten Weltkrieg etabliert. Deutschland und die meisten europäischen Staaten, die meisten politischen Kräfte in Europa, haben sehr komfortabel in dieser Ordnung gelebt. Die Amerikaner hatten ein Interesse, dies zu tun, und sie haben es weiter. Wenn sie diese globale Ordnung aufrechterhalten wollen, dann müssen sie für Stabilität sorgen. Und wenn sie auch Einfluss haben wollen - Stichwort China - dann ist es halt auch ein Instrument, um mehr Einfluss zu gewinnen in der Welt.

SWR Aktuell: Was wäre denn die beste Alternative für das Konzept "Nukleare Abschreckung"?

Horovitz: Die beste Alternative ist natürlich, wenn alle abrüsten. Aber das ist nun mal sehr unwahrscheinlich in einem kompetitiven internationalen System.

SWR Aktuell: Sind denn wirklich alle atomaren Abrüstungsinitiativen so tot, dass wir sie jetzt hinwerfen und mit voller Kraft in die Gegenrichtung starten?

Horovitz: Das glaube ich nicht, dass alle so tot sind, dass wir sie hinwerfen. Es gibt immer noch Anstrengungen, bestimmte Teile aufrechtzuerhalten. Die Amerikaner bemühen sich natürlich. Es ist die Frage, inwiefern man Chinesen und Russen in einer so komplizierten Lage noch einmal an den Tisch bringen kann. Das sind zwei Prozesse, die parallel laufen müssen, sie sind auch immer parallel gelaufen. Wenn der Fokus auf Abrüstung war, dann haben wir halt nicht gemerkt, wie die Abschreckung im Hintergrund gelaufen ist und umgekehrt. Jetzt bemerken wir die anderen Hintergrundprozesse nicht. Aber ja: Im Grunde genommen haben wir Abschreckungsmaßnahmen in Europa ganz lange ignoriert. Da müssen wir uns jetzt nicht nur Gedanken machen, sondern auch Geld investieren.

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Jan-Frederic Willems