11.000 Jahre alte Rentier-Falle? Forscher entdecken Eiszeit-Mauer am Boden der Ostsee

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Ulrike Alex
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Stefan Eich

Zehn Kilometer vor der Küste Mecklenburg-Vorpommerns, auf dem Grund der Ostsee, haben Forscher Reste einer Mauer entdeckt. Der Steinwall ist knapp einen Kilometer lang – und vermutlich mehr als 11.000 Jahre alt. Wer die Steine in der Eiszeit aufgeschichtet hat, ist unklar- es könnten Rentierjäger gewesen sein, erklärt Marcel Bradtmöller, Historiker und Archäologe an der Uni Rostock, im Gespräch mit SWR-Aktuell-Moderatorin Ulrike Alex.

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SWR Aktuell: Warum ist denn diese Mauer so besonders?

Marcel Bradtmöller: Vor allen Dingen ist sie besonders, weil wir sie nicht erwartet haben: Weder in unseren Breiten, noch in dieser Tiefe, noch in dem Kontext der Jäger- und Sammlerkulturen, die zu dieser Zeit gelebt haben, von der wir ausgehen, dass diese Mauer errichtet wurde.

Eiszeitmauer war ein Zufallsfund

SWR Aktuell: War dann die Entdeckung der Mauer ein Beifang, ein Zufallsfund?

Bradtmöller: Genau. Die Mauer wurde von Jakob Geersen und seinem Team, damals von der Universität Kiel, heute IOW Warnemünde, per Zufallsfund getätigt, auf einer Ausfahrt. Die machen im Sommer eine Woche lang ein Praktikum vor Ort, um geophysikalische Prospektionsmethoden mit den Studierenden auszutesten und zu erlernen. Und da war das der Zufallsfund par excellence.

SWR Aktuell: Wir müssen uns ja vorstellen: Vor 12.000 Jahren sah die Erde da anders aus. Da war keine Ostsee…

Bradtmöller: Genau. Vielleicht spulen wir mal ganz kurz zurück: Wir wissen im Moment über diese Struktur, dass die Geologen uns sagen, sie sei menschengemacht. Und wenn sie menschengemacht ist, bedeutet das, dass sie vor 8.500 Jahren überflutet wurde, durch den damaligen Meeresspiegelanstieg. Und dann gucken wir uns an: Vor 8.500 Jahren hatten wir noch Jäger und Sammler hier im südwestlichen Raum der Ostsee. Da macht es aber keinen Sinn, so eine Mauer zu bauen, weil wir uns in einem Waldhabitat zu dieser Zeit aufhalten. Und deswegen war die Frage: Was könnte das denn eigentlich anderes sein? Und letztendlich sind wir an den Punkt gekommen, dass die Hypothese, die uns im Moment am wahrscheinlichsten erscheint, eine Struktur für die Treibjagd auf Rentiere gewesen ist.

SWR Aktuell: Wie muss ich mir das vorstellen? Die bauen eine Mauer an einer Stelle, die für Rentiere interessant ist. Und dann werden die Tiere dahingetrieben?

Bradtmöller: Genau. Wir haben kennen zum Beispiel aus dem Ahrensburger Tunneltal bei Hamburg. Da haben wir natürliche Engstellen, wo wir sehr gut Bescheid wissen, dass dort vor dem Spätglazial Menschen Rentierherden gejagt haben. Und so etwas Ähnliches können wir denn uns artifiziell eventuell auch für den „Blinkerwall“ vorstellen. Also die Rentiere sind einmal im Jahr mit ihrer Herde unterwegs, also einmal für die Sommerweide nach Skandinavien. Dann kommen die im Herbst wieder vollgefressen zurück in den Süden. Und das ist denn normalerweise auch der Punkt, wo die Tiere dann auch gejagt wurden.

Möglich sind eiszeitliche "Jagdevents"

SWR Aktuell: Wie viele Jäger werden da unterwegs gewesen sein?

Bradtmöller: Das ist eine gute Frage. Im Moment stellt uns das vor die größte Herausforderung, weil wir davon ausgehen, dass wir eine maximale Gruppengröße von 45 Personen haben, die sich das ganze Jahr über gesehen haben zu dieser Zeit. In Europa war die Bevölkerung nicht besonders groß, und die Gruppen, die dort unterwegs waren, waren sehr klein. Allein schon der Arbeitsaufwand, der bei 150 bis 200 Stunden gelegen hat, um diese Steinreihe aufzuschütten, das ist etwas, was sie nicht einfach so nebenbei machen. Das hat wahrscheinlich was mit ihrer Subsistenz zu tun als Gruppe. Und dann stellt sich das Problem dar, dass sie dann eigentlich eine relativ große Gruppe brauchen, um dieser gemeinschaftlichen Jagdevents wirklich umsetzen zu können.

SWR Aktuell: Und jetzt, wenn die Jagd vorbei ist, dann hab ich reiche Beute gemacht. Aber ich habe keine Tiefkühltruhe…

Bradtmöller: Das stimmt. Sie haben wenig Möglichkeiten der Lagerung. Deswegen ist eine weitere Hypothese, die man hier aufstellen könnte - wie wir es auch von anderen Fundplätzen in Europa schon kennen -, dass wir es hier mit einem zentralen Punkt zu tun haben, wo sich eventuell mehrere dieser Gruppen einmal im Jahr, vielleicht alle zwei Jahre, getroffen haben, dann über mehrere Wochen dort zusammengeblieben sind und dann auch die Versorgung sichergestellt haben. Über diese Zeit, wo man zusammen sein konnte, denken wir an ein Heiratsnetzwerk oder den Austausch von Informationen. Das ist auch damals schon wichtig gewesen.

Funde könnten auch für den Umgang mit dem heutigen Klimawandel wichtig sein

SWR Aktuell: Stichwort Geld: Menschen lassen sich leichter begeistern für prächtige ägyptische Tempel als für glitschige Steine im Meer. Wie kommen Sie zu Forschungsgeldern für dieses Projekt, das ja eigentlich eher ein Leckerbissen für Forscher ist?

Bradtmöller: Es ist vielleicht gar nicht bloß ein Leckerbissen für Forscher. Denken Sie an den aktuellen Klimawandel: Wir sind Homo Sapiens. Die Personen, die damals dort unterwegs gewesen sind, gehören der gleichen Gattung an mit den gleichen neuronalen Mustern wie wir: Wie wir uns vernetzen, wie wir agieren, wie wir uns anpassen. Und was wir wissen, ist, dass diese Menschen sich sehr gut den Klimaveränderungen angepasst haben. Nun ist das jetzt keine direkte 1:1- Übertragung zu den heutigen Problemen. Aber es ist schon interessant zu sehen, dass dort diese hochmobilen Gruppen, von dem wir gedacht haben, dass die nie länger als ein bis vier Wochen vielleicht an einem Platz geblieben sind, dort auf einmal so eine Struktur bauen. Wo dann auch die Frage ist: Wie hat Territorialität funktioniert? Wem „gehört“ - in Anführungszeichen - diese Anlage? Wer hat sie genutzt? Das sind nochmal ganz neue Fragen, die wir aufmachen können und die schon dann indirekt auch mit dem zu tun haben, was heute an Prozessen für uns wichtig ist.

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