Mütter beim Mittagessen in der Wohngemeinschaft. Das gemeinsame Mittagessen gehört zum Leben in der Mütter-WG dazu. Mit dabei auch die Betreuerinnen der Lebenshilfe. (Foto: SWR)

Begleitete Elternschaft

Mutter-Glück trotz geistiger Beeinträchtigung: Wie eine WG in Aalen Perspektiven gibt

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Peter Schmid
SWR-Aktuell Redakteur Peter Schmid (Foto: SWR)

Frauen mit geistiger Einschränkung, die Mama geworden sind, finden in Aalen Unterstützung. Eine WG gibt ihnen die Chance, mit Kind ein geregeltes Leben zu führen - unter Aufsicht.

Wenn Frauen mit einer geistigen Behinderung Mütter werden, schaut das Jugendamt genau hin. Es muss sicherstellen, dass das Kindeswohl gewahrt wird. Oft klappt das nicht und die Kinder müssen an eine Pflegefamilie oder ein Heim abgegeben werden. Eine Lösung bieten Einrichtungen, in denen die Mütter Unterstützung bei der Kinderbetreuung bekommen. In ganz Baden-Württemberg gibt es nur sechs solcher Plätze. Vier davon sind in Unterkochen bei Aalen.

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Geistig beeinträchtigten Müttern eine Perspektive geben, das ist der Sinn der Wohngemeinschaft der Aalener Lebenshilfe. In der WG leben vier Frauen mit ihren Kindern, hinzu kommen die Betreuer.

Die Frauen sollen dort möglichst eigenständig ihre Kinder großziehen. Diese Chance haben nicht alle Mütter mit einer geistigen Beeinträchtigung.

Yvonne und ihre Tochter auf dem Bett beim lesen. Eine Gute-Nacht-Geschichte zum einschlafen: Yvonne kümmert sich liebevoll um ihre Tochter. Sie liest ihrem Kind auch des öfteren etwas vor. (Foto: SWR)
Eine Gute-Nacht-Geschichte zum einschlafen: Yvonne kümmert sich liebevoll um ihre Tochter. Sie liest ihrem Kind auch des öfteren etwas vor.

Wenn die 22-jährige Yvonne ihrer Tochter ein Buch vorliest, ist jedes Wort eine kleine Herausforderung. Ihrer Tochter ist das egal, sie hört gebannt zu und legt sich mit ihrem Kopf auf Mamas Brust.

Vor drei Jahren wurde Yvonne Mutter. In Aalen leben die beiden mit drei anderen geistig eingeschränkten Müttern und deren Kindern in einer Wohngemeinschaft - unter ständiger Aufsicht. "Es gibt auch mal Zickenkrieg oder Streitereien, ist ja normal so", sagt die junge Mutter. "Aber sonst verstehe ich mich sehr gut mit den anderen".

Es ist ein Menschenrecht, dass auch Menschen mit Behinderung Familie haben dürfen.

WG-Plätze für geistig behinderte Mütter sind rar: "Warteliste ist lang"

Steffen Sponer-Dittrich leitet bei der Lebenshilfe Aalen den Bereich "Begleitete Elternschaft". Es gibt mehrere Mutter-Kind-Einrichtungen im Umkreis. Eine der Einrichtungen sticht dabei aber heraus: Das ist die Wohngemeinschaft geistig behinderter Mütter im Stadtteil Unterkochen mit vollstationärer Betreuung.

Doch die Plätze in der Mütter-WG sind begehrt. "Wir sind voll und wir haben eine sehr große Warteliste", erzählt Sponer-Dittrich. "Wir können die Anfragen gar nicht alle bedienen."

Er leitet die Abteilung "Begleitete Elternschaft" bei der Lebenshilfe Aalen: Steffen Sponer-Dittrich. Geistig beeinträchtigte Menschen und die Mütter-WG liegen ihm am Herzen. (Foto: SWR)
Er leitet die Abteilung "Begleitete Elternschaft" bei der Lebenshilfe Aalen: Steffen Sponer-Dittrich. Geistig beeinträchtigte Menschen und die Mütter-WG liegen ihm am Herzen.

"Es ist ein Menschenrecht, dass auch Menschen mit Behinderung Familie haben dürfen", sagt Sponer-Dittrich. Die Lebenshilfe Aalen unterstützt sie dabei.

Ihm liege es am Herzen, den Müttern, die es sowieso schon schwer hätten, eine Perspektive zu bieten, sagt der Bereichsleiter bei der Lebenshilfe Aalen. Oft werden die Kinder von geistig behinderten Müttern in Obhut genommen. Eine Chance, die Kinder in einem geschützten Raum selber groß zu ziehen, haben die wenigsten.

Mutter Yvonne in der Küche. Sie hält einen Teller mit Hamburger-Patties. Yvonne lebt seit fast zwei Jahren in der Mütter-WG in Aalen-Unterkochen. Zwei Mal in der Woche hat sie Kochdienst. Heute gibt es Hamburger. (Foto: SWR)
Yvonne lebt seit fast zwei Jahren in der Mütter-WG in Aalen-Unterkochen. Zwei Mal in der Woche hat sie Kochdienst. Heute gibt es Hamburger.

Betreuung rund um die Uhr - Betreuung im Schichtdienst

Um den Alltag bewältigen zu können, sind die Mütter auf Unterstützung angewiesen. Sozialpädagogen beziehungsweise -Padägoginnen der Lebenshilfe Aalen sind immer an ihrer Seite, und zwar im Schichtdienst. Das heißt, auch bei Nacht. Das macht diese WG auch besonders: Eine so intensive Vollzeitbetreuung gibt es in Baden-Württemberg laut Sponer-Dittrich nur hier in der Aalener Einrichtung.

Yvonne, die mit ihrer Tochter seit fast zwei Jahren in der WG wohnt, bekommt so die Hilfe, die sie braucht. "Wenn ich jetzt zum Beispiel Hilfe benötige, kann ich Petra fragen oder Carolin. Die würden mir dann auch helfen. Ich glaube, ohne Unterstützung würde ich nicht weiter kommen mit meinen Gedanken", gibt Yvonne zu.

Mütter beim Mittagessen in der Wohngemeinschaft. Das gemeinsame Mittagessen gehört zum Leben in der Mütter-WG dazu. Mit dabei auch die Betreuerinnen der Lebenshilfe. (Foto: SWR)
Das gemeinsame Mittagessen gehört zum Leben in der Mütter-WG dazu. Mit dabei auch die Betreuerinnen der Lebenshilfe.

Kindeswohl hat Vorrang in der WG

Das Hauptaugenmerk der Betreuerinnen liegt vor allem bei den Kindern und nicht vorrangig bei den Müttern. Das Kindeswohl soll gesichert werden. "Die Mütter wissen schon, was gemacht werden muss. Aber zum Beispiel in Stresssituationen vergessen sie das ein oder andere", erklärt Sozialpädagogin Carolin Hammele. "Dann geben wir der Mutter einen Hinweis: Zum Beispiel, wenn es draußen schlechtes Wetter hat und die Mutter die Jacke daheim vergessen würde."

Mit den Müttern trainieren die Betreuer laut Hammele unter anderem das eigenständige Einkaufen oder wie man öffentliche Verkehrsmittel sicher nutzt. Die Mütter werden in ihrem späteren Leben aller Voraussicht nach keinen Führerschein haben.

Betreuerin Carolin Hammele vor dem Wochenplan in der Mütter-WG. Betreuerin Carolin Hammele bestückt den Wochenplan mit vielen bunten Wortschnipseln. Der Plan im Herzen der WG soll den Bewohnerinnen durch den durchgetakteten Tagesablauf Halt geben.  (Foto: SWR)
Betreuerin Carolin Hammele bestückt den Wochenplan mit vielen bunten Zetteln. Der Plan im Zentrum der Mütter-WG soll den geistig behinderten Bewohnerinnen im durchgetakteten Tagesablauf Halt geben.

Leben in der WG: Alles nach Plan - und ohne die Väter

Ohne einen Plan läuft in der WG nichts. Im Erdgeschoss hängt der Wochenplan, eine große, weiße Pinwand. Es gibt zum Beispiel einen Putzdienst, einen Kochdienst und einen Mülldienst, eben alles, was in einer WG erledigt werden muss. Das machen die Frauen selbstständig.

Betreuerin Carolin Hammele befestigt mehrere bunte Hinweise auf der Pinwand. "Die Familien können so sehen, wer von unseren Fachkräften täglich wie arbeitet. Dann sehen sie auch, wer ihre Bezugsbetreuer im Dienst sind."

Die Zimmer der Frauen sind mit dem nötigsten eingerichtet: Ein Schrank, ein Tisch, zwei Betten und ein Babyfon. Wenn es Probleme geben sollte, ist die Betreuungskraft so gleich zur Stelle. Die Zimmertüren dürfen die Mütter abschließen.

Die Väter der Kinder leben nicht hier. Zu viel Unruhe würden sie laut den Verantwortlichen in die WG bringen. Die Kinder haben aber zum Teil außerhalb der WG Kontakt zu ihnen.

WG auf Zeit - bis die Kinder zehn Jahre sind

Und doch bleibt die WG eine WG auf Zeit. Die Mütter können hier leben, solange sie Hilfe benötigen, jedoch maximal, bis die Kinder zehn Jahre alt sind. Wie es dann weiter gehen soll, weiß Yvonne noch nicht. Genau so wenig, wie die anderen drei Frauen.

Die Lebenshilfe Aalen bietet die Möglichkeit, auch nach der Station in der Mütter-WG eine Einrichtung zu finden, wo sie leben können.

Yvonne hat auch schon Pläne. Ihr Traum ist, nach ihrem Berufsvorbereitungsjahr Kinderpflegerin zu werden.

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