Gas ist zur Mangelware geworden, die Heizkosten gehen durch die Decke und der nächste Winter kommt. Was der Klimawandel in den vergangenen Jahren nicht geschafft hat, treibt der russische Angriff auf die Ukraine voran: die Suche nach Einsparmöglichkeiten von Energie und nach schnell realisierbaren Alternativen. Alle Voraussetzungen im Bereich Wärmeerzeugung sind bei einer Biogasanlage in Tamm (Kreis Ludwigsburg) vorhanden, der Wille zur klimaneutralen Wärmeversorgung kann also Wirklichkeit werden. Die Kommune hatte das Potential dazu bereits vor dem Ukrainekrieg erkannt.
Biogasanlage als Wärmeproduzent
Metall auf Beton. Eine Mischung aus Quietschen und Schaben. Dann sticht die riesige Schaufel tief in den haushohen Berg aus kleingehäckseltem Mais. Der wurde hier in den riesigen Siloanlagen bei Tamm zwischengelagert. Der Traktor von Marc Reutter wirkt gegen die Maisberge wie Spielzeug. Mit der vollen Schaufel fährt der Landwirt nun ein paar Meter weiter und kippt den Mais in eine Mulde. Dahinter werden zwei Becken sichtbar. Silberne und grüne Folie spannt sich wie eine Haube über die Becken und lässt sie wie zwei halbe Heißluftballone aussehen.
Die Becken lassen schon die Bedeutung erahnen, die der Mais hat. Denn hier, in der Biogasanlage von Marc Reutter, wird vor allem aus ihm Strom gemacht. Fermentation nennt der Fachmann den Prozess, bei dem der Mais in den von Folie überspannten Fermentern vergoren wird. Dabei entsteht Biogas und das wird nebenan in Marc Reutters Blockheizkraftwerk zu Strom und Wärme umgewandelt. 4,5 Millionen Kilowattstunden Strom und 5 Millionen Kilowattstunden Wärme pro Jahr. Damit können etwa 1.500 Haushalte mit Strom und etwa 230 Haushalte mit Wärme versorgt werden.
Bislang wird allerdings nur der Strom seiner Biogasanlage komplett genutzt. Die Wärme heizt derzeit lediglich die benachbarte Schule. Der Rest geht als Abwärme in die Luft. Das ist schlecht für den Wirkungsgrad der Biogasanlage, unwirtschaftlich für den Betreiber und kontraproduktiv in Zeiten von Energiesparen und Energiewende.
Tamm baut klimaneutrales Wärmenetz
"Energiewende" ist das Schlagwort für die Stadt Tamm mit knapp 13.000 Einwohnerinnen und Einwohnern. Aus ihr sollen Konsequenzen folgen. Für Bürgermeister Martin Bernhard (parteilos) zählt dabei vor allem der Gedanke an zukünftige Generationen. Er denkt an den Klimawandel als eine Bedrohung, "gegen die man Taten und nicht nur Worte setzen müsse". Bis 2030 will er deshalb seine Kommune klimaneutral mit Wärme versorgen. Unterstützt und beraten wird die Stadt dabei von der Energieagentur Kreis Ludwigsburg.
Raphael Gruseck ist Experte für Wärmenetze und hilft Tamm unter anderem bei der Planung und der Umsetzung, bei den Genehmigungsverfahren und dem Beantragen von Subventionen. Vom ersten Plan im Herbst 2021 bis zum ersten Spatenstich waren es so gerade einmal fünf Monate. Seitdem werden in ganz Tamm Straßen aufgerissen und Fernwärmeleitungen gelegt.
Zentrale Wärmequellen ersetzen Heizungen in der Stadt
Die Leitungen werden im nächsten Schritt unter anderem mit der Biogasanlage von Marc Reutter verbunden und nutzen deren Wärme. Nach und nach kommen dann weitere Wärmequellen hinzu, sagt Raphael Gruseck von der Energieagentur Kreis Ludwigsburg. Unter anderem sind Solarthermieanlagen, Hackschnitzelkessel und Luft-Wärme-Pumpen geplant. Sie sorgen dafür, dass kein Haus in Tamm künftig mehr eigene Wärme produzieren muss. Denn durch die Fernwärmeleitungen fließt konstant warmes Wasser in die Haushalte.
Bereits 70 Prozent der Haushalte in Tamm haben sich für einen Hausanschluss entschieden. Die Akzeptanz im Ort ist groß, obwohl auch die Hausbesitzer die Wärme nicht zum Nulltarif bekommen. Die Anschlussgebühr müssen sie selber zahlen: etwa 5.000 bis 10.000 Euro pro Einfamilienhaus. Sie profitieren allerdings von den marktunabhängigen, konstanten Preisen, sagt Raphael Gruseck. Außerdem seien die Kosten für den Anschluss viel geringer als die für eine neue Heizung. Zusätzlich erfülle das Fernwärmesystem aufgrund der Klimaneutralität alle Vorschriften für eine Eigenheimsanierung.
Stadtwerke Tamm ohne Profitorientierung
Um das neue Wärmenetz umzusetzen hat die Stadt Tamm ihre eigenen Stadtwerke gegründet. 24 Millionen Euro soll der Umbau kosten. Mithilfe vieler Subventionen aus Landes-, Bundes- und EU- Mitteln sollen sich die Investitionen bereits in 20 bis 30 Jahren rechnen. Die Stadtwerke sind nicht profitorientiert, betont Bürgermeister Martin Bernhard. Statt künftig Gewinne zu verbuchen würden eventuelle Mehreinnahmen in sinkende Energiepreise für die Verbraucher umgelegt.
Interesse und Akzeptanz bei Einwohnern groß
Das sind Argumente, die auch Christoph Schneider überzeugen. Er besitzt Wohnungen in einem Mehrfamilienhaus in Tamm. Seine Tochter wohnt hier. Das Haus ist dreißig Jahre alt, ebenso die Heizung. Sie wird in den nächsten Jahren erneuert werden müssen. Die Fernwärme ist für Christoph Schneider ein Glücksfall, sagt er. Seine Hausgemeinschaft hat einen Anschluss bestellt.
Die Rohre sollen demnächst kommen. Der Weg zum Haus ist schon gebaggert. Ein tiefer Graben zieht sich von der Straße zum Haus. In der Hauswand sieht man die Löcher der Kernbohrungen, durch die die Fernwärmeleitungen einmal ins Haus führen sollen. Statt einer neuen Heizung wird das Haus von Christoph Schneider künftig gar keine mehr brauchen. Die Heizkörper füllen sich dann mit Wärme aus den zentralen Heizanlagen der Stadt.
Sowohl Bürger als auch Kommunen profitieren
Raphael Gruseck von der Energieagentur Kreis Ludwigsburg sieht im Tammer Modell Nachahmungspotential. Gerade für kleinere Städte bis 30.000 Einwohner sei es gut möglich die Wärmeversorgung über die Kommune - ähnlich wie in Tamm - zu regeln. Er fordert einen Paradigmenwechsel, denn bisher sehen sich nur wenige Städte in der Pflicht. Kommunen müssten ähnlich wie die Wasser- oder Stromversorgung auch die Wärmeversorgung in die eigene Hand nehmen. Sowohl die Städte als auch die Bürger profitierten von einem solchen Schritt.
Die Kommunen sollten jetzt rasch handeln und Wärmenetze bauen, so Raphael Gruseck. Denn je mehr Eigenheimbesitzerinnen und -besitzer ihre Heizung im Keller sanieren müssen, desto weniger nehmen später an einem kommunalen Wärmenetz teil.