Gut einen Monat ist es nun her, dass der russische Präsident Wladimir Putin angesichts schwerer Niederlagen russischer Truppen die Einberufung von insgesamt 300.000 Reservisten Ende angeordnet hat. In Russland selbst löste die Maßnahme Panik und eine regelrechte Massenflucht aus.
Auch Männer, die theoretisch noch nicht auf den Listen zur Teilmobilmachung stehen, flüchten – aus Angst, dass sich die Bedingungen der Mobilmachung jeden Tag ändern könnten. Politiker in der EU sind sich derzeit uneins, wie mit russischen Kriegsdienstverweigerern verfahren werden sollte.
Manche Russen kommen nach Baden-Württemberg
Die meisten Russen flüchten in angrenzende Ex-Sowjetstaaten wie Georgien und Kasachstan, aber einige sind auch im Großraum Stuttgart gestrandet, der 38-Jährige Sergej zum Beispiel. Mitte Oktober ist vorübergehend bei seiner Schwester untergekommen, die schon lange in Deutschland lebt. Sergej ist nicht sein richtiger Name. Um die beiden Männer zu schützen, von denen dieser Text erzählt, haben wir ihre Namen geändert.
An einem grauen Tag im Oktober steht Sergej in der Wohnung seiner Schwester und kocht Kaffee. Nebenan im Wohnzimmer steht sein Laptop auf einem kleinen Tisch. Sergej ist Physiker und arbeitet als Wissenschaftler. Er hat das Glück, dass er für seinen Job schon in der Vergangenheit viel in Europa gearbeitet hat und deshalb momentan nach eigenen Angaben noch ein Schengen-Visum hat.
Ende September, kurz nachdem Putin die Teilmobilmachung bekanntgab, rief ein Freund von Sergej ihn an. Er habe Angst, dass die Grenzen bald zugehen, sagte der Freund. Er werde Russland verlassen. Sergej entschied in kürzester Zeit, sich dem Freund anzuschließen.
Litauen gegen Asyl für russische Kriegsdienstverweigerer
Viele Politiker fordern, Russen sollen in ihrer Heimat bleiben und dort gegen das Regime kämpfen. Litauens Außenminister Gabrielius Landsbergis schrieb zum Beispiel im September auf Twitter, dass sein Land jenen, "die nur vor der Verantwortung davonlaufen", kein Asyl gewähren werde. "Die Russen sollten bleiben und kämpfen. Gegen Putin."
Sergej erscheint das aussichtlos. "Ich halte nichts davon, anderen vorzuschreiben, dass sie Helden sein müssen. Natürlich bin ich kein Held. Ich bin nicht dort geblieben, um gegen das Regime zu kämpfen", sagt Sergej in der Wohnung seiner Schwester.
Hinzu kommt: Sergejs Familie hat ukrainische Wurzeln. Sein Vater lebt in Kiew. Falls Sergej in Russland zum Militärdienst gezwungen werden würde, könnte er theoretisch in die Situation kommen, gegen seine eigenen Verwandten kämpfen zu müssen. Auch diese Sorge war für ihn ein Grund, das Land zu verlassen.
Froh und erleichtert, in Sicherheit zu sein
Im Gegensatz zu Sergej ist Michail (Name ebenfalls geändert) schon länger hier. Direkt nach Russlands Angriff auf die Ukraine Ende Februar hat der 24-Jährige Moskauer sich nach Jobs im Ausland umgesehen. Seine Bewerbung bei einem Robotik-Startup in Stuttgart war erfolgreich. Er hat ein Arbeitsvisum bekommen und lebt seit dem Sommer mit seiner Frau in Stuttgart.
Er sei froh und enorm erleichtert, hier in Sicherheit zu sein, sagt Michail. Fast alle seiner guten Freunde hätten Russland inzwischen verlassen. Kirgistan, Kasachstan, Georgien, Ägypten – Michael zählt einige der Länder auf, in denen seine Freunde nun sitzen und versuchen herauszufinden, wie es für sie weitergehen soll.
"Würdest du kämpfen oder weglaufen?"
Michail hat Verständnis dafür, dass EU-Politiker sagen, Russen sollten in Russland gegen Putin kämpfen, anstatt in sichere Länder zu flüchten. Aber auf einer persönlichen Ebene sehe es anders aus, so Michail.
"Stell dir vor, du stehst vor bewaffneten Soldaten. Das sind keine friedlichen Proteste wie in Deutschland oder Frankreich, wo die Polizei Demonstranten schützt. In Russland gibt es die Rosguardia, die zur Unterdrückung von Protesten eingesetzt wird", sagt Michail. "Diese Einsatzkräfte dürfen Waffen tragen. Stell dir vor, die stehen vor dir, was würdest du tun? Würdest du kämpfen oder weglaufen?"
Etwa 150 russische Asylanträge seit Jahresbeginn
Eine Frage, die sich tausende Männer in Russland gerade stellen müssen. Sergej und Michail konnten über ihre Arbeit in die EU einreisen. Andere beantragen Asyl. Zwischen Januar und August hatten 89 Menschen aus Russland in Baden-Württemberg einen Asylantrag gestellt, danach sind bis zum 25.10. noch einmal 62 Asylgesuche von Russen hinzugekommen, schreibt das baden-württembergische Justizministerium auf Anfrage.
Etwa 40 Menschen aus Russland sind laut dem Ministerium in Baden-Württemberg derzeit in Erstaufnahmeeinrichtungen für Geflüchtete untergebracht – dieselben Unterkünfte, in denen auch viele Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine unterkommen. "Bislang sind für die Erstaufnahme und die vorläufige Unterbringung keine Berichte über etwaige Konflikte bekannt", schreibt das Ministerium auf die Frage, ob es bereits zu Problemen zwischen Ukrainern und Russen gekommen sei.
Ein neues Zuhause finden
Sergej und Michail gehen nicht davon aus, dass sie nach Russland zurückgehen, solange der Krieg nicht beendet ist. Zu groß ist für beide die Angst, doch noch eingezogen zu werden und dann verletzt zu werden oder zu sterben.
Sergej reist nun weiter nach Slowenien. Dort hat er Arbeit bei einem internationalen Forschungsprojekt an einem Institut und hofft, in Slowenien nun erst einmal ein neues Zuhause zu finden. Michail und seine Frau wollen bis auf Weiteres in Stuttgart bleiben. Am Kühlschrank des Paares kleben schon die Regeln der Landeshauptstadt Stuttgart zur sachgemäßen Mülltrennung.