In den Handwerksberufen fehlen laut dem Institut der deutschen Wirtschaft bundesweit 113.000 Fachkräfte. Allein in der Region Stuttgart blieben zum Ausbildungsstart im September vergangenen Jahres tausende Azubistellen unbesetzt. Den größten Bedarf gibt es in der Bauelektrik. Das Unternehmen Elektro-Breitling aus Holzgerlingen im Landkreis Böblingen hat sich deswegen etwas besonderes einfallen lassen: ein Freiwilliges Handwerksjahr (FHJ).
Freiwilliges Handwerksjahr soll Orientierung bieten
Das FHJ funktioniert ähnlich wie das Freiwillige Soziale Jahr (FSJ) und das Freiwillige Ökologische Jahr (FÖJ). Dem Unternehmen geht es darum, jungen Menschen, die noch nicht wissen, in welche Richtung sie sich beruflich entwickeln wollen, Orientierung zu bieten. "Wir haben in den letzten Jahren sehr oft erlebt, dass Jugendliche oder Leute, die von der Schule weggehen, nicht genau wissen, wo ihr Weg hingeht", so Jörg Veit, Geschäftsführer Personal bei Elektro-Breitling in Holzgerlingen.
Er hatte bereits 2021 die Idee für das FHJ. "Davor haben wir schon zahlreiche Schulabbrecher und Studienabbrecher bei uns im Unternehmen gehabt", erzählt Veit. Dabei sei aufgefallen, dass "wenn sie mal ein bisschen Orientierung bekommen, ein Jahr im Praktikum bei uns sind, dass sie häufig bei uns bleiben". Seit knapp vier Jahren gibt es deswegen offiziell die Möglichkeit des FHJs.
Vor allem im Handwerk fehlen Auszubildende Warum fehlen so viele Azubis in der Region Stuttgart?
Am 1. September startet traditionell das neue Ausbildungsjahr. Auch 2024 bleiben in der Region viele Ausbildungsplätze unbesetzt. Das hat verschiedene Gründe, sagen Unternehmen.
Schnupperkurs im Handwerk
Die Firma hat sieben Ausbildungsberufe. Vier davon können die Teilnehmenden des FHJs innerhalb des Jahres ausprobieren und so vielleicht ihren Traumjob finden.
Bei Marcel Fischer aus Schönaich (Kreis Böblingen) hat das funktioniert. Der 19-Jährige hat im September 2024 mit dem Freiwilligen Handwerksjahr begonnen und war von seiner ersten Station direkt so überzeugt, dass er diesen September seine Ausbildung zum Elektroniker für Energie- und Gebäudetechnik bei Elektro-Breitling starten wird.

Dass Angebot zum FHJ habe er per Zufall im Internet entdeckt, erzählt Fischer. Denn nach dem Abitur hatte er erstmal keinen konkreten Berufswunsch, konnte durch die Corona-Pandemie auch keine ersten Erfahrungen durch Praktika sammeln.
Ich fand das eine super Idee. Einfach ein Jahr lang arbeiten. Mal in die Berufswelt reinschnuppern. Und dabei eben auch Eindrücke zu sammeln, die einem natürlich - auch wenn man nicht dabeibleibt - trotzdem was bringen.
Kann das Handwerksjahr den Azubimangel beenden?
Wenn sich junge Menschen nach dem FHJ dafür entscheiden, im Betrieb zu bleiben, ist das für Breitling ein Gewinn. Die Firma investiert nämlich nicht nur Zeit in das Orientierungsjahr, sondern auch Geld. Die Teilnehmenden bekommen monatlich einen Lohn von 2.500 Euro brutto - und können jederzeit kündigen, sollte es ihnen keinen Spaß mehr machen.
Jedes Jahr dürfen zwei Personen das Orientierungsjahr absolvieren. In diesem Jahr haben sich beide FHJler dafür entschieden, eine Ausbildung bei Elektro-Breitling zu starten. Geschäftsführer Veit geht davon aus, dass sich durchschnittlich zwischen 50 und 60 Prozent der FHJ-Absolventen nach dem Jahr für eine Ausbildung bei ihnen entscheiden.
Freiwilliges Orientierungsjahr: Bisher nicht in ganz BW möglich
In Baden-Württemberg hat sich das FHJ bisher nicht als Pendant zum FSJ etabliert. Anders sieht es in Lübeck aus. Hier bietet die Handwerkskammer seit dem Sommer 2024 ein FHJ an. Junge Menschen können so innerhalb eines Jahres vier verschiedene Berufe in unterschiedlichen Betrieben kennenlernen. Dafür bekommen sie 450 Euro Aufwandsentschädigung pro Monat.
Die Handwerkskammer Region Stuttgart unterstützt das FHJ nach eigenen Angaben zwar generell, bietet selbst aber keine Möglichkeit dazu. Dafür plant die Kreishandwerkerschaft Böblingen ab dem zweiten Quartal 2025 ein Freiwilliges Berufsorientierungsjahr im Handwerk. In diesem Orientierungsjahr können dann - ähnlich wie in Lübeck - vier verschiedene Berufe ausprobiert werden.
Hohe Hürden für Unternehmen
Für Geschäftsführer Veit gibt es verschiedene Gründe, warum sich andere Unternehmen gegen ein FHJ entscheiden. Da wäre zum einen das Thema Mindestlohn. "Das muss man sich leisten können", sagt Veit. Bei Jugendlichen, die die Schule abgebrochen haben, brauche es außerdem eine Sondergenehmigung, damit die Schulpflicht entfällt.
Die Eintrittsbarrieren sind für die Unternehmen sehr hoch.
Wenn in verschiedene Betriebe reingeschnuppert werden soll, brauche es zudem immer einen neuen Arbeitsvertrag. Dazu kommt, dass das FHJ bisher, anders als das FSJ, nicht anerkannt ist.
Freiwilliges Berufejahr als Alternative zum FSJ?
Veit wünscht sich deswegen ein Freiwilliges Berufejahr, um jungen Menschen die Möglichkeit zu bieten, verschiedene Berufe kennenzulernen - auch außerhalb des Handwerks. "Mit so einem Freiwilligen Berufejahr könnten wir die klassischen Wege in der Berufsorientierung aufbrechen", so Veit.