Seit 40 Jahren Unterstützung für Betroffene von sexualisierter Gewalt

"Wildwasser": Hilfe für Frauen, die in ihrer Kindheit missbraucht wurden

Stand

Von Autor/in Susanne Babila

Kinder erleben am häufigsten in der Familie sexualisierte Gewalt. Oft suchen sie erst als Erwachsene Hilfe. Es gibt nur wenige Anlaufstellen - eine ist "Wildwasser Stuttgart".

Sabine Müller (anonymisiert) kennt "Wildwasser Stuttgart" seit Jahrzehnten. Sie suchte den Verein schon wenige Jahre nach seiner Gründung auf und unterzog sich einer Therapie. Bis heute holt sie sich dort Rat und Unterstützung, wenn die Erinnerungen sie nicht mehr loslassen und sich eine Krise anbahnt.

Die 60-Jährige sitzt in einem lichtdurchfluteten Raum und spricht mit Traumatherapeutin Yvonne Wolz. An einer Wand ist ein großes Regal mit Stofftieren aufgestellt, darunter Bären, Löwen, Delfine oder der kleine Rabe Socke. Ein heller Teppichboden, Pflanzen und Bilder schaffen eine positive Atmosphäre.

Depressionen und Identitätsstörung

Sabine Müller knetet während des Gesprächs mit beiden Händen einen Igelball. Das helfe ihr Stress und Anspannung abzubauen, wenn sie von ihrem Vater erzählt, der sie als kleines Mädchen sexuell missbraucht hat. "Das hat mit vier Jahren angefangen und ging über einige Jahre bis ich etwa acht Jahre alt war. Meine Mutter hat das unterstützt. Sie hat das gewusst", sagt sie.

Sabine war den Menschen, die sie liebte und denen sie vertraute, restlos ausgeliefert. Ihr wurde vermittelt, dass das alles normal sei, auch die Schmerzen und die Angst. Sie dachte, sie sei schuld und versuchte es allen recht zu machen, in der verzweifelten Hoffnung, dass ihr Vater sie dann in Ruhe ließe. Denn zuhause habe sie sich nie sicher gefühlt.  

"Ich hatte immer Angst vor der Nähe meines Vaters, auch später als Jugendliche, als er mich nicht mehr sexuell missbrauchte. Ich habe mein Zimmer abgeschlossen, weil ich in meinem Elternhaus keine Sicherheit hatte."

Sabine litt schon als Teenager an Depressionen und Essstörungen und hatte die Erinnerungen an ihren Vater, der sie als kleines Mädchen missbrauchte, völlig verdrängt. Denn Kindesmissbrauch kann zu dissoziativen Störungen führen, die bei überfordernden traumatischen Erfahrungen einsetzen, um der Realität zu entkommen oder die negativen Gefühle zu reduzieren. Das sei ein Schutzmechanismus des Körpers, um überhaupt weiterleben zu können, erklärt Yvonne Wolz von der Beratungsstelle "Wildwasser", denn "ein Kind kann das überhaupt nicht aushalten, dass Tag für Tag engste Bezugspersonen solche schrecklichen Dinge tun und gleichzeitig aber fröhlich mit auf dem Spielplatz zum Beispiel sind".

Yvonne Wolz von der Beratungsstelle "Wildwasser Stuttgart"
Yvonne Wolz von der Beratungsstelle "Wildwasser Stuttgart"

Etwa 5.800 Beratungsanfragen bei "Wildwasser Stuttgart"

Meist lassen Betroffene erst viele Jahre oder Jahrzehnte später Erinnerungen an das Erlebte zu. Erst dann könne man sich damit auseinandersetzen und die Traumata aufarbeiten. Bei den Mitarbeiterinnen von "Wildwasser Stuttgart" fand Sabine Müller Hilfe. Damals war sie 25 Jahre alt und "Wildwasser" erst seit einigen Jahren gegründet. Das war mein Glück, blickt Sabine Müller zurück und lächelt, denn zum ersten Mal habe man sie wahr- und ernstgenommen. Bis heute ist sexualisierte Gewalt ein Tabuthema und in allen Schichten präsent. Sexualisierter Missbrauch an Kindern und Jugendlichen passiert in der Mitte der Gesellschaft.

"Durch die Metoo-Debatte haben sich mehr Menschen getraut, darüber zu sprechen. Also nicht irgendwie nur in armen, sondern es ist vor allem auch bei gutsituierten Familien der Fall."

Wir hatten allein in "Wildwasser Stuttgart" im letzten Jahr knapp 5.800 Beratungsanfragen, erklärt Geschäftsführerin Yvonne Wolz. Die Dunkelziffer ist weitaus höher. Leider können wir nicht alle Anfragen annehmen, so Wolz weiter, weil wir einfach nicht die Kapazitäten haben, vor allem wenn die Betroffenen aus anderen Landkreisen kommen.

Jeden Tag werden in Deutschland 54 Kinder und Jugendliche Opfer von sexuellem Missbrauch, so der jüngste Bericht des Bundeskriminalamts zu sexuellem Missbrauch von Kindern. Die Dunkelziffer ist weitaus höher. Die Betroffenen können sich aber häufig erst als Erwachsene offenbaren. Doch es gibt nur wenige Anlaufstellen wie "Wildwasser", die sich an Erwachsene richten, die sexuellen Missbrauch als Kind erlebt haben.

Den Klientinnen abzusagen sei hart, so Wolz, denn es sei ein extrem mutiger Schritt, wenn sich Frauen an uns wenden und über ihre leidvollen Erfahrungen sprechen wollen. Betroffene litten nicht selten unter schweren psychischen Erkrankungen und lebten in Armut. Häufig sei es schwierig, mit Verwandten oder Freunden darüber zu reden, geschweige denn, Eltern mit dem Missbrauch ihrer Kinder zu konfrontieren.

Die Beratungsstelle von "Wildwasser Stuttgart"
Die Beratungsstelle von "Wildwasser Stuttgart"

Mutter gab Tochter die Schuld am Missbrauch

Auch Sabine Müller konnte nie mit ihrem Vater oder ihrer Mutter darüber sprechen, was sie ihr angetan hatten. Und keiner von beiden bat sie je um Verzeihung. Ganz im Gegenteil. Ihre Mutter gab ihr die Schuld, erzählt die heute 60-jährige. Eine sehr schmerzhafte Erfahrung, die viele Betroffene machen, sagt Sozialpädagogin und Therapeutin Yvonne Wolz. Sie habe bislang keine Klientin erlebt, die die Eltern mit dem Missbrauch konfrontierte und das als heilend erlebte, weil die Eltern bereuten und sich entschuldigten.

Sexualisierte Gewalt muss aus der Tabuzone geholt werden, sagt Yvonne Wolz. Das bedeutet, das Schweigen zu brechen und Präventionsmaßnahmen zu ergreifen. Bei "Wildwasser" fand Sabine Müller Verständnis und kann sich jederzeit melden, wenn die Erinnerungen sie überwältigen und sie Hilfe braucht.

Sabine Müller hat mit Hilfe von Yvonne Wolz gelernt, sich nicht permanent von ihren Erinnerungen bestimmen zu lassen und achtsam mit sich umzugehen. "Unglaublich, wie ich immer wieder versucht habe, es kleinzureden und jetzt erst bereit bin zu sagen: Nein, es war einfach nicht klein, und es war nicht nur ein bisschen, sondern es war ganz furchtbar", sagt Sabine. Es hat viele Jahre gedauert, bis sie Vertrauen aufbauen und eine Partnerschaft eingehen konnte. Auch ihre Freundinnen und Freunde erfuhren erst nach vielen Jahren von ihrer traumatischen Kindheit. Aber Schritt für Schritt habe sie es geschafft, sich nicht mehr ohnmächtig zu fühlen und sich dem Erlebten zu stellen. Es sind schwere Narben, die ich davongetragen habe, sagt sie, aber heute habe ich mein Leben im Griff.   

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