In der Ukraine tobt der Krieg und das bereits seit mehreren Monaten. Immer mehr Menschen flüchten. Allein in Baden-Württemberg sind nach Angaben des Migrationsministeriums seit Beginn des Krieges Ende Februar rund 96.000 Menschen aus der Ukraine angekommen - hauptsächlich Frauen, Kinder und ältere Menschen. Das sind fast so viele Flüchtlinge wie zuletzt 2015. Damals waren es laut dem Ministerium 101.000 Asylsuchende. Dabei dürfte die Dunkelziffer der ukrainischen Geflüchteten noch deutlich höher liegen. Denn viele Flüchtlinge konnten bei Verwandten oder Bekannten unterkommen und wurden so von den Ausländerbehörden nicht erfasst.
EU-Richtlinie sichert Aufenthaltsstatus der Ukraine-Geflüchteten in BW
Auch wenn die Anzahl der Menschen, die seit Kriegsbeginn nach Baden-Württemberg gekommen sind, vergleichbar ist mit der Situation 2015, so ist die rechtliche Ausgangslage doch eine andere. Durch die sogenannte Massenzustroms-Richtlinie der EU bekämen die Geflüchteten aus der Ukraine direkt ein Aufenthaltsrecht in Deutschland und müssten kein Asylverfahren durchlaufen, erklärt Thomas Deines. Er ist Leiter des Referats für Flüchtlingsaufnahme und Integrationsförderung am Regierungspräsidium in Stuttgart. "Dadurch ist das Aufenthaltsrecht geklärt und die Menschen können auf unterschiedlichen Ebenen ankommen", so Deines weiter. Statt in den Erstaufnahmeeinrichtungen des Landes können Geflüchtete so beispielsweise auch direkt bei den Landkreisen oder Kommunen unterkommen.
Anlaufstelle für Schutzsuchende Mannheimer Jugendherberge wird Notunterkunft für Flüchtlinge aus der Ukraine
Die Mannheimer Jugendherberge ist eine erste Anlaufstelle für Geflüchtete aus der Ukraine. Die Menschen können sich hier anmelden, medizinisch untersuchen lassen und vieles mehr.
Unterbringung der Flüchtlinge von Kommune zu Kommune unterschiedlich
Wo die Flüchtlinge in den einzelnen Städten untergebracht werden, dass sei von Kommune zu Kommune unterschiedlich, so Christiane Conzen, Referentin des Städtetags Baden-Württemberg.
"Da gibt es wirklich alle Modelle: Couch, Mietvertrag mit Wohnung, Halle, Hotel, Jugendherberge."
Viele Geflüchtete seien außerdem direkt untergekommen durch persönliche Kontakte, so Referatsleiter Deines. Und auch die Bereitschaft der Bevölkerung, Wohnraum zur Verfügung zu stellen sei sehr groß. "Ohne diese Hilfe der Bevölkerung wären noch viel mehr Menschen in Notunterkünften untergebracht", erklärt Deines weiter.
Kinderbetreuung für geflüchtete Kinder: Die Kitas sind voll
Die Integration hört beim Wohnraum aber nicht auf. Es gebe "unendlich viele Maßnahmen" um die Geflüchteten in den Kommunen zu integrieren, so Deines. Angefangen bei den Kleinsten: Viele Städte würden versuchen, eine Kinderbetreuung anzubieten. Denn: Die meisten der hiesigen Kindergärten und Kindertagesstätten sind voll, weiß Anja Braekow, erste Vorsitzende des Kita-Verbands Baden-Württemberg. Ihre eigene Kita in Rheinfelden (Landkreis Lörrach) ist bis Ende 2023 ausgebucht. Selbst an Orten, wo die Kitas noch nicht so überlastet sind, konnten meist nur wenige Kinder in die Gruppen aufgenommen werden. Die Kommunen hätten deswegen eigene Lösungen gefunden. In Rheinfelden gebe es jetzt beispielsweise eine Spielgruppe und ein Mutter-Kind-Café, so Braekow. An diesen Begegnungsstätten funktioniere die Integration auch sehr gut. "Das Spannende ist ja, dass Kinder auch wahnsinnig schnell Sprache lernen", so die Kita-Leiterin.
"Wir reden mit Händen und Füßen, mit Zeichen, Übersetzungsapp und Fotos."
Um die Kommunikation zu vereinfach hätten das Land und die Elternstiftung verschiedene Übersetzer und Übersetzungsbilder bereitgestellt. Auch die Informationsblätter für Eltern würden mittlerweile auf Ukrainisch bereit liegen.
Baden-Württemberg will Angebote schaffen Kita und Schule für ukrainische Flüchtlingskinder: Land will "pragmatisch" vorgehen
Die Landesregierung in BW will es geflüchteten Kindern aus der Ukraine ermöglichen, Schulen und Kitas zu besuchen. Kultusministerin Schopper (Grüne) wirbt für unkomplizierte Lösungen.
Knapp 14.000 ukrainische Kinder an Schulen in BW
Anders als in den Kindergärten sieht es an den Schulen im Land aus. Kinder im schulfähigen Alter werden nach sechs Monaten schulpflichtig - egal, ob Platz ist oder nicht. Nach Angaben des Kultusministeriums sind aktuell 12.500 Kinder ukrainische Kinder an allgemeinbildenden Schulen und mehr als 1.000 an berufsbildenden Schulen. Tendenz steigend. Kinder im schulpflichtigen Alter gebe es aktuell nämlich rund 32.000, so Ralf Scholl, Vorsitzender des baden-württembergischen Philologenverbands. Die restlichen 18.000 würden spätestens im kommenden Schuljahr dazukommen, so Scholl weiter.
An der Stammschule von Scholl, dem Paracelsus-Gymnasium-Hohenheim in Stuttgart, gibt es aktuell 13 ukrainische Schülerinnen und Schüler. Sie wurden altersentsprechend in bereits bestehende Klassen eingegliedert - allerdings immer nur maximal drei pro Klasse. "Wenn es zu viele Schüler sind, dann kann man den normalen Unterrichtsbetrieb nicht mehr weiterlaufen lassen", meint Scholl. Zusätzlich seien die ukrainischen Kinder und Jugendlichen in einer sogenannten Vorbereitungsklasse. Hier lernen sie an mehreren Stunden in der Woche Deutsch.
Viele neue Schüler - zu wenige Lehrer
Das Problem: Für Vorbereitungsklassen und eine Vielzahl an neuen Schülerinnen und Schülern braucht es Lehrkräfte. Der Philologenverband habe Mitte März schon geschätzt, dass ungefähr 40.000 ukrainische Kinder nach Baden-Württemberg kommen würden, so Scholl. Einige Lehrerinnen und Lehrer im Land hätten deswegen auch ihre Stunden aufgestockt. Aber das würde nicht reichen. "Wenn man 40.000 Kinder aufnehmen will, dann braucht man mindestens mal 3.000 zusätzliche Lehrkräfte", so der Vorsitzende des Verbands. Für diese Vielzahl an neuen Lehrkräften fehle aber das Geld.
Den akuten Lehrermangel können auch ukrainische Lehrkräfte nicht ausgleichen. Denn nicht alle sprechen Englisch. Laut Scholl unterrichten aktuell 50-70 ukrainische Lehrerinnen und Lehrer an baden-württembergischen Schulen.
Unbürokratische und schnelle Hilfe Geflüchtete Lehrkräfte aus der Ukraine unterrichten in Bopfingen
Rund 14.000 Schülerinnen und Schüler aus der Ukraine sind in Baden-Württemberg angekommen. In Bopfingen bekommen sie Unterricht von Lehrerinnen, die ebenfalls geflohen sind.
Integration am Arbeitsmarkt: Geflüchtete kommen nicht, um Fachkräftemangel zu decken
Nicht nur Lehrkräfte, auch andere Flüchtlinge haben in Baden-Württemberg vereinzelt bereits Jobs gefunden. Die Massenzustroms-Richtlinie regelt nämlich nicht nur den Aufenthaltsstatus der Ukrainerinnen und Ukrainer, sondern noch einen weiteren Aspekt: Die Geflüchteten dürfen sich in Deutschland theoretisch direkt eine Arbeit suchen.
Aktuell ist die Zahl derjenigen, die sich bei der Agentur für Arbeit in Baden-Württemberg gemeldet haben, aber noch sehr gering. Es seien etwas weniger als 300 Menschen, so Silke Haverland von der Regionaldirektion Baden-Württemberg. Die Gründe dafür sind vielseitig: "Fehlende Sprachkenntnisse und eine mangelnde Betreuung der Kinder können die Integration (in den Arbeitsmarkt Anm.d.Red.) erschweren. Hinzu kommt die unsichere Bleibeperspektive, weil viele vielleicht auch schnellstmöglich wieder zurückkehren möchten", sagt Haverland. Grundsätzlich sei der Arbeitsmarkt in Baden-Württemberg aber sehr stabil und aufnahmefähig. Viele Arbeitgeber hätte außerdem ein hohes Interesse daran, Fachkräfte aus der Ukraine einzustellen. Dabei müsse man aber beachten:
"Die Frauen und Kinder, die zu uns kommen, kommen natürlich in erster Linie nicht nach Deutschland, um unseren Fachkräftebedarf zu decken."
Referatsleiter Deines aus Stuttgart gibt zusätzlich die Sozialstruktur der Geflüchteten zu Bedenken. "Wir haben sehr viele Familien, Frauen mit kleinen Kindern, die oftmals gar nicht sofort arbeiten können." Dazu komme, dass die meisten Menschen erst wenige Wochen im Land seien. "Sie haben traumatische Erlebnisse auf der Flucht erlebt. Die ersten Tage ist vielleicht nicht das Arbeiten im Vordergrund."
Auch Haverland weiß: Die meisten Menschen, die sich bisher zum Arbeiten gemeldet haben, sind Frauen. Dazu kommen die unterschiedlichen beruflichen Hintergründe. Jobs, die eine Approbation benötigen, etwa bei Medizinerinnen und Mediziner, müssten sich den Abschluss in Deutschland erst einmal anerkennen lassen. Bei anderen Jobs ist die Hürde, Arbeit im Land zu finden, dagegen geringer. So konnte zum Beispiel eine Friseurin an einen Betrieb in Mannheim vermittelt werden - ohne jegliche deutschen Sprachkenntnisse, erzählt Haverland. "Es funktioniert. Auch ohne Sprachkenntnisse können die Menschen dann in bestimmten Berufen arbeiten."
Beispiel aus Mannheim Geflüchtete aus der Ukraine: Arbeitssuche als Glücksfall
Die meisten Menschen aus der Ukraine wollen nach dem Krieg wieder zurück in ihre Heimat. Zuvor möchten sie arbeiten. Ein Beispiel aus Mannheim zeigt: Das kann ein Gewinn sein.
Auch wenn aktuell noch wenige Geflüchtete auf Jobsuche sind: Haverland von der Agentur für Arbeit geht davon aus, dass die Zahl der arbeitssuchenden Flüchtlinge in den kommenden Wochen und Monate steigen wird. "Das hängt natürlich davon ab, wie sich das Kriegsgeschehen entwickelt und ob die Menschen dann entsprechend längerfristig bei uns bleiben möchten." Durch die Erfahrungen mit dem Flüchtlingsstrom 2015 sei die Arbeitsagentur dafür aber gut aufgestellt.
Trauma durch Kriegserfahrungen: Psychologische Betreuung für Ukraine-Flüchtlinge
Bei all den Berichten über gelungene Integration darf man nicht vergessen: Viele der Geflüchteten sind nach ihrer Flucht traumatisiert. Sie mussten ihre Heimat und teilweise Familienmitglieder zurücklassen. Einige haben das Kriegsgeschehen hautnah miterlebt und Angehörige verloren. In Baden-Württemberg gibt es deswegen verschiedene Anlaufstellen, bei denen sich die Flüchtlinge psychologische Hilfe holen können. In der Landeserstaufnahmestelle in Ellwangen arbeite seit einiger Zeit sogar eine Psychologin, die selbst aus der Ukraine geflüchtet ist, erzählt Deines vom Regierungspräsidium Stuttgart. "Das ist für uns natürlich eine Riesenhilfe", sagt der Referatsleiter. So könne man den Geflüchteten Hilfe in ihrer Muttersprache anbieten.
Unsichere Zukunft für Geflüchtete
Wie viele Ukrainerinnen und Ukrainer in den kommenden Wochen und Monaten noch nach Baden-Württemberg kommen werden, kann im Moment niemand sagen. Und auch, wie viele letztendlich im Land bleiben werden, ist von einem unsicheren Faktor abhängig: dem Krieg in der Ukraine. Wie dieser sich entwickelt, ist aktuell ungewiss.