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Zerstreut, abgelenkt, unaufmerksam – Verlieren wir die Fähigkeit zur Konzentration?

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Johanne Burkhardt
Johanne Burkhardt  (Foto: Johanne Burkhardt )
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Ulrike Barwanietz
Candy Sauer

Aufmerksamkeit ist keine endlose Ressource: Wir werden von anderen Personen unterbrochen oder von den eigenen Gedanken, werden abgelenkt durch Unerledigtes oder äußere Reize. Das haben spätestens nach dem "Großexperiment Homeoffice" viele Menschen erfahren.

Konzentration verbraucht viele kognitive Ressourcen

Warum können wir unsere Aufmerksamkeit bei einer bestimmten Sache nicht über längere Zeit auf einem hohen Niveau halten? Die einfache Antwort lautet: Weil es viele kognitive Ressourcen verbraucht. Ein Zustand von dauerhafter Konzentration sei für den Organismus schlicht zu anstrengend, erklärt Sabine Kastner, Neurowissenschaftlerin an der Princeton University.

Handy in Sicht: Bedeutet das Smartphone im Blickfeld immer eine Ablenkung?

Niklas Johannes ist Verhaltensforscher an der Universität Oxford. Am Oxford Internet Institute erforscht er, wie digitale Medien das Wohlbefinden und die Leistungsfähigkeit beeinflussen. Bis vor einigen Jahren war er selbst davon überzeugt, dass Menschen unkonzentrierter sind, wenn ihr Handy im Blickfeld liegt. Bis er genau diese Annahme in einem Experiment untersuchte.

Schreibtisch mit Rechner, Tablet und Smartphone: Studie zeigt keinen Leistungsunterschied, ob das Smartphone in Sichtweite liegt oder nicht. Jedoch fühlten sich die Teilnehmenden mit Smartphone in Sichtweite dennoch abgelenkt. (Foto: IMAGO, IMAGO / Westend61)
Eine Studie zeigte keinen Leistungsunterschied, wenn das Smartphone entweder in Sichtweite liegt oder nicht. Jedoch fühlten sich die Teilnehmenden mit Smartphone in Sichtweite dennoch abgelenkt.

In seinem Versuch sollten die Teilnehmenden eine einfache Aufgabe am Computer erledigen, je nach Probandengruppe lag das Handy in Sichtweite. Die Benachrichtigungen waren entweder an oder ausgeschaltet. Die drei Gruppen unterschieden sich nicht in ihrer Leistung. Trotzdem berichteten die Teilnehmenden, bei denen das Handy auf dem Tisch lag, dass sie sich abgelenkt fühlten.

Das Smartphone lenkt vor allem ab, wenn Arbeit keinen Spaß macht

Das Smartphone lenke vor allem dann ab, wenn einem die Arbeit wenig Spaß mache, erklärt Niklas Johannes. Ist der Griff zum Handy erst einmal erfolgt, scheint alles auf eine kurze Aufmerksamkeitsspanne maßgeschneidert zu sein: Die Inhalte werden immer kürzer und dadurch schneller konsumierbar. Die Tagesschau gibt es auch in 100 Sekunden. Tweets in 280 Zeichen und TikToks in drei Minuten.

Viele Unterbrechungen der Aufmerksamkeit kosten Extrazeit

Könnte unsere sinkende Aufmerksamkeitsspanne nicht auch daran liegen, dass wir immer häufiger bei der Arbeit unterbrochen werden? Eine Antwort kennt Anja Baethge. Die Arbeits- und Organisationspsychologin lehrt und forscht an der Medical School Hamburg. Sie hat zu täglichen Unterbrechungen während der Arbeitszeit promoviert.

Wenn eine Unterbrechung bearbeitet oder verschoben wurde, könne man sich wieder der ursprünglichen Aufgabe widmen, so Anja Baethge. Doch um in diese wieder hineinzufinden, bräuchte es zusätzliche Zeit, die ohne die Unterbrechung nicht notwendig geworden wäre. Und das ist Zeit, die wir womöglich nicht immer haben. Insbesondere dann, wenn sich die Unterbrechungen häufen.

Laut Studie werden Pflegekräfte allein in der Frühschicht bis zu 60 Mal unterbrochen (Foto: IMAGO, IMAGO / Westend61)
Laut Studie werden Pflegekräfte allein in der Frühschicht bis zu 60 Mal unterbrochen

Befragungen der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin kommen zu dem Ergebnis, dass die Arbeitsintensität von Erwerbstätigen schon seit Jahrzehnten auf einem sehr hohen Niveau ist. Die Befragten berichteten vor allem davon, mehrere Aufgaben gleichzeitig bearbeiten zu müssen oder bei der Arbeit unterbrochen zu werden. Pflegekräfte in der Frühschicht zum Beispiel werden bis zu 60 Mal unterbrochen.

Frustration und Stress hemmen die Konzentration

Das Entscheidende bei Unterbrechungen im Arbeitsleben ist eigentlich, dass die Unterbrechung eine zusätzliche Aufgabe darstellt, die man nicht eingeplant hat, so die Psychologin Anja Baethge. Bei einer Studie mit Beamten kam sie sogar auf insgesamt 2 Stunden Ablenkung pro 8-Stunden-Arbeitstag.

Das hat Auswirkungen auf unsere Aufmerksamkeit, vor allem indirekt: Frustration und Stress hemmen die Konzentration. Im Extremfall sogar den Schlaf. Und der ist essenziell für die Aufmerksamkeitsleistung.

Selbst wenn wir einer Unterbrechung nicht nachgehen, sie also erstmal aufschieben, driften die Gedanken zur unerledigten Aufgabe. In der Psychologie spricht man vom "Zeigarnik-Effekt".

Konzentration hält ohne Pause nicht länger als eine Stunde an

Anja Baethge findet jedoch, dass viele Menschen viel zu überzogene Anforderungen an sich stellen, was ihre Konzentrationsfähigkeit auf Dauer angeht. Eigentlich kann man nicht von sich erwarten, mehr als eine Stunde konzentriert zu arbeiten – ohne Pause sogar eher weniger, so Baethge. Eine Unterbrechung sei dann sogar willkommen. Zu den richtigen Zeitpunkten sind Unterbrechungen also gut. Oder wie Anja Baethge sie nennt: Pausen.

Um der Konzentration im Zweifelsfall unter die Arme zu greifen, rät die Arbeitspsychologie zum guten alten "Bitte nicht Stören"-Schild. Das kann im Homeoffice auch ein Chat-Status oder eine feste Abwesenheitszeit sein, die man mit Kolleginnen und Kollegen vereinbart.

Gemütliches Stricken: Aufmerksamkeit und Konzentration lassen sich trainieren (Foto: IMAGO, IMAGO / Westend61)
Gemütliches Stricken: Aufmerksamkeit und Konzentration lassen sich trainieren

Aufmerksamkeit trainieren durch Achtsamkeit und Spaß

Aufmerksamkeit lässt sich trainieren. Zum Beispiel durch Achtsamkeitsübungen. Dass Menschen, die regelmäßig Achtsamkeit praktizieren, sich besser konzentrieren können, ist bereits durch eine Vielzahl an Studien bestätigt. Die Idee: Durch das bewusste Wahrnehmen von Ablenkungen wird die Konzentration gestärkt, indem zum ursprünglichen Fokus zurückgekehrt wird. Zum Beispiel zur Atmung.

Man kann sich aber auch einfach Zeit nehmen, um etwas zu tun, das interessiert und Spaß macht: So lernt unser Gehirn, sich wieder länger auf Dinge zu konzentrieren.

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Medien: aktuelle Beiträge

Die Schule brennt – der Bildungspodcast mit Bob Blume Clemens Beisel: Handysüchtige Kinder – Was Schulen und Eltern tun können

Viele Eltern, aber auch viele Lehrkräfte, wollen gar nicht wissen, was in der WhatsApp-Klassengruppe abgeht. Clemens Beisel weiß es aus seiner Arbeit: Da gibt es nichts, was es nicht gibt – Pornos, KZ-Witze, Fake News, Mobbing.
Clemens Beisel kommt aus der mobilen Jugendarbeit, heute geht er in Schulen, bietet Workshops an und sensibilisiert Schülerinnen und Schüler für ihren Medienkonsum. Denn vielen ist durchaus bewusst, dass ihnen der "WhatsApp"-Stress nicht guttut. Und Clemens Beisel sagt: Auch Eltern könnten ihre Kinder besser schützen.
Homepage von Clemens Beisel: "Clemens hilft!" | https://clemenshilft.de/
Erwähnte Medien und weiterführende Links
Silke Müller: Wir verlieren unsere Kinder. Gewalt, Missbrauch, Rassismus – Der verstörende Alltag im Klassen-Chat (Droemer HC 2023)
Blogbeitrag von Tristan Harris | https://bobblume.de/2017/11/17/serie-wie-technologie-unseren-geist-manipuliert-i/
klicksafe.de | http://klicksafe.de
FAQ: Wie Eltern ihre Kinder durch die sozialen Netzwerke begleiten können | https://www.swr.de/swraktuell/rheinland-pfalz/smartphone-nutzung-kinder-schule-was-sollten-eltern-beachten-gefahren-in-sozialen-medien-100.html
medien-kindersicher.de | http://medien-kindersicher.de
ARTE: Dopamin | https://www.arte.tv/de/videos/RC-017841/dopamin/
Deutscher Podcastpreis – Abstimmung
Zur Abstimmung für den Deutschen Podcastpreis: https://www.deutscher-podcastpreis.de/podcasts/die-schule-brennt/
Kontakt: Bei Fragen oder Anregungen schreibt uns: dieschulebrennt@auf-die-ohren.com

Psychologie: aktuelle Beiträge

Psychologie Psychisch gestörte Attentäter – Seelische Krankheiten und Gewalt

Nach Attentaten heißt es oft, der Täter sei psychisch krank. Tatsächlich leiden viele unter einer wahnhaften Schizophrenie. Sind psychisch kranke Menschen besonders gefährlich? Von Jochen Paulus (SWR 2022/2024) | Manuskript und mehr zur Sendung: http://swr.li/psyche-attentaeter | Bei Fragen und Anregungen schreibt uns: daswissen@swr.de | Folgt uns auf Mastodon: https://ard.social/@DasWissen

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SWR Science Talk Komplexität und ihre Fallen | "Die Welt ist vulnerabler geworden."

Lieferketten, Datenströme, Naturgewalten. Unsere Welt ist vernetzt, die Komplexität der Vorgänge macht die Zukunft schwer berechenbar - und damit die Welt verletzlich. Ralf Caspary im SWR Science Talk mit dem Philosophen Marco Wehr (SWR 2024) | Mehr zur Sendung: http://swr.li/welt-komplexer | Bei Fragen und Anregungen schreibt uns: wissen@swr2.de | Folgt uns auf Mastodon: https://ard.social/@DasWissen

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Gesellschaft Die Welt wird immer komplexer – Wie können wir damit umgehen?

Oft sind wir von unserem Alltag überfordert. Für dieses Gefühl sind wir meist selbst verantwortlich, da wir die Welt z.B. durch Handys und das Internet immer komplexer machen, sagt Buchautor Marco Wehr. Dagegen hilft ein wenig mehr Genügsamkeit in dem, was wir tun.
Christoph König im Gespräch mit Marco Wehr, Buchautor, Philosoph und Physiker.

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