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Europas ewige AKW-Baustelle in Finnland

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Dirk Asendorpf
Dirk Asendorpf (Foto: SWR, Dirk Asendorpf)
Candy Sauer
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Ulrike Barwanietz

Olkiluoto 3 sollte der erste Neubau eines Atomkraftwerks in der westlichen Welt sein – nach der Katastrophe von Tschernobyl 1986. Doch 14 Jahre nach Baubeginn hat das AKW noch keine einzige Kilowattstunde Strom erzeugt.

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Olkiluoto 3: Fiasko statt Vorzeigeprojekt

2002 hatte Finnland das neue Atomkraftwerk Olkiluoto 3 bei einem deutsch-französischen Konsortium bestellt. Doch statt zum Vorzeigeobjekt hat sich das Milliarden-Vorhaben zum Fiasko entwickelt. Sicherheitsbedenken, technische und organisatorische Probleme führten zu immer neuen Verzögerungen. Und die Kosten sind explodiert.

Längst in Betrieb ist nur das Besucherzentrum, in dem der finnische Energieversorger TVO seine Hochglanzversion des europäischen Druckwasserreaktors, kurz EPR, präsentiert. Der EPR unterscheidet sich in vielen Details von früheren Reaktoren, das ist in der Ausstellung zu erfahren. Vor allem aber sei er viel besser vor Unfällen geschützt als all seine Vorgänger; sogar einem Flugzeugabsturz könne die doppelte Betonhülle des Atom-Eis standhalten. Sicher, sauber und CO2-frei sei der so erzeugte Atomstrom, kurz eine „verlässliche grüne Energie“.

EPR sollte Exportschlager werden

Mindestens 200 Stück wollten das deutsch-französische Konsortium Siemens und Areva weltweit verkaufen. Das hatten sie noch 2006 verkündet. Doch bis heute sind nur zwei dieser Reaktoren ans Netz gegangen – in China. Und selbst dort hat sich die geplante Bauzeit verdoppelt. Ein französischer EPR-Neubau liegt noch weiter hinter dem Zeitplan zurück als Olkiluoto 3, ein zweites französisches Projekt wurde ebenso wieder abgeblasen wie ein zweites finnisches.

Konstruktionsarbeiter im finnischen AKW Olkiluoto am 17. August 2017 (Foto: dpa Bildfunk, picture alliance / Roni Rekomaa)
In welcher Höhe Siemens für die Milliardenkosten der Bauverzögerung haftet, ist öffentlich nicht bekannt

Indien hatte 2009 den Bau mehrerer EPR angekündigt, bis heute aber nicht begonnen. England hat zwar 2018 den Neubau zweier EPR-Reaktoren offiziell gestartet, noch fehlt aber eine Finanzierung der bereits auf 26 Milliarden Euro gestiegenen Kosten. Und weitere Aufträge sind nicht in Sicht.

Die größte Baustelle Europas

Juha Poikola lässt sich von den düsteren Zukunftsaussichten des EPR nicht irritieren. Stolz öffnet der Manager des Energieunternehmens TVO das Tor zum fast fertigen Reaktor in Olkiluoto und schwärmt von dessen Superlativen. Vor ein paar Jahren war es die größte Baustelle Europas. Bis zu 6.000 Menschen aus über 50 Ländern arbeiteten hier – und gossen über 250.000 Kubikmeter Beton, bewehrt mit einem Stahlgeflecht, das für den Bau von fünf Eiffeltürmen ausgereicht hätte.

Zwei Menschen sitzen in Campingstühlen auf der rechten Rheinseite und beobachten den kontrollierten Abriss des Kühlturms. (Foto: SWR)
Nur 13 Monate war das AKW Mülheim-Kärlich in Betrieb. Der rund 80 Meter hohe Rest des Kühlturms wurde 2019 zum kontrollierten Einsturz gebracht.

In ganz Finnland genießt die Atomstromerzeugung große Zustimmung. Selbst ein Drittel der Grünen-Wähler spricht sich für ihren Weiterbetrieb aus, ein Fünftel wünscht sich sogar einen Ausbau. Hauptgrund: Die Klimadebatte. Bis 2035, so das offizielle Ziel, soll Finnlands gesamte Elektrizität ohne Treibhausgasemissionen erzeugt werden – mit Atomstrom in der Hauptrolle.

Unwirtschaftlich: Kernenergie hat 1996 ihren Höhepunkt überschritten

Doch Juha Aromaa, derzeitiger Sprecher von Greenpeace Finnland, sieht die Kernenergie für die heutige Zeit als viel zu unwirtschaftlich. Und tatsächlich hat die Epoche der Kernenergie bereits 1996 ihren Höhepunkt überschritten. Damals deckten Atomkraftwerke 17,5 Prozent des weltweiten Strombedarfs. Seitdem sinkt der Anteil, heute sind es zehn Prozent.

Neue Atomkraftprojekte werden inzwischen fast nur noch in Ländern geplant, in denen der Staat aus strategischen Gründen ein Interesse an der Nuklearindustrie hat – sei es, um Plutonium für sein Atomwaffenarsenal zu gewinnen oder um seinen geostrategischen Einfluss zu steigern.

Außenansicht AKW Fessenehim (Foto: dpa Bildfunk, Christophe Karaba)
Das Kernkraftwerk Fessenheim ist das älteste und leistungsschwächste noch in Betrieb befindliche französische Kernkraftwerk

Zu diesen Ländern gehört vor allem Frankreich, das Land mit dem weltweit höchsten Atomstromanteil. In Finnland hat das französische Staatsunternehmen Areva den Neubau deshalb zum Festpreis von rund drei Milliarden Euro angeboten. Ein schwerer Fehler, wie sich jetzt herausstellt. Denn inzwischen liegen die Gesamtkosten bereits bei über elf Milliarden, die der französische Steuerzahler trägt.

Frankreich muss allein an Finnland 950 Millionen Euro Strafe zahlen

Siemens, der deutsche Partner des EPR-Konsortiums, hat seine Nuklearsparte direkt nach der Katastrophe von Fukushima 2011 nach Frankreich verkauft. An Olkiluoto 3 ist der Energiekonzern aus München jetzt nur noch als Lieferant konventioneller Kraftwerkstechnik, insbesondere der weltgrößten Turbine, beteiligt. In welcher Höhe Siemens für die Milliardenkosten der Bauverzögerung haftet, ist öffentlich nicht bekannt.

Nach jahrelangem Rechtsstreit haben sich Finnland und Frankreich 2018 auf eine Strafzahlung von 450 Millionen Euro für die entgangene Stromproduktion in Finnland geeinigt. Weitere 400 Millionen Euro werden fällig, weil der EPR auch 2019 noch nicht fertig geworden ist. Wäre das Geld statt in den Reaktorbau in die Erzeugung erneuerbarer Energie geflossen, würde die finnische Elektrizitätswirtschaft heute möglicherweise besser dastehen.

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