Album-Tipp

Schmerzen der Marien: „Dolente Partita“ vom Bremer Barockensemble Musica Getutscht

Stand
AUTOR/IN
Thilo Braun
KÜNSTLER/IN
Pia Davila, Ensemble Musica Getutscht

„Dolente Partita“ bedeutet auf Deutsch „schmerzerfülltes Spiel“. Diesen Titel haben das Bremer Barockensemble Musica Getutscht und Sopranistin Pia Davila ihrem neuen Album geschenkt. Versammelt haben sie Gesänge von und an die beiden Marien aus der Bibel, komponiert von Claudio Monteverdi und Zeitgenossen. Dieses Album lässt bei Barockfans keinerlei Wünsche offen.

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Szenen, die beinahe körperlich spürbar sind

Tarquinio Merulas „Canzonetta sopra la nanna“ ist ein Wiegenlied – aber ein schmerzerfülltes. Maria blickt auf das unschuldige Wesen in ihren Armen, wünscht ihrem Sohn Jesus einen friedlichen Schlaf und ahnt das Grauen doch schon voraus: „Es kommt die Zeit“, singt sie, „da wird man weinen müssen.“

Ich kann die beschriebene Szene beinahe körperlich spüren: Vor dem inneren Auge sehe ich eine karge Stallwand, spüre eisigen Wind zwischen den Balken hereinpfeifen. Das liegt nicht nur an den vielen Krippenspielen aus Kindheitserinnerungen, sondern auch an der Interpretation.

Nur mit einzelnen Tönen auf der Basslaute besetzt das Ensemble Musica Getutscht die Begleitung. Im Kontrast zu Pia Davilas zittrig-warmer Singstimme wirkt das wie eine Metapher bitterer Armut.

Ästhetischer Wandel um 1600

Die Musikerinnen und Musikern möchten mit diesem Album den ästhetischen Wandel um 1600 spürbar machen. Größte Neuerung dieser Zeit: die Erfindung der Oper. Das hat Spuren hinterlassen, auch in der Kirchenmusik.

An Stelle verworrener Mehrstimmigkeit tritt die reduziertere, aber umso kunstvollere Klangrede in ihren beiden wichtigsten Formen: Rezitativ und Arie.

Claudio Monteverdi hat mit seinem „Salve Regina“ einen Hilferuf an die Muttergottes komponiert. Seine Musik bildet tonmalerisch die Gefühlswelt nach: „Zu dir seufzen wir, trauernd und weinend, in diesem Tal der Tränen“, heißt es im Text. Und Monteverdi imitiert dieses Seufzen und Weinen in seiner Melodie. Pia Davila verstärkt die Wirkung durch Tremoli – als würde sie von Heulkrämpfen durchgeschüttelt.

Verführerisch vorgetragen von Pia Davila

Um beim Publikum die größtmögliche Wirkung zu erzielen, entwickelten sich im 17. Jahrhundert auch neue Gesangstechniken, etwa virtuose Koloraturen.

Den Lobpreis auf Maria könnte man schon als Flirt bezeichnen. Denn Komponist Giovanni Rovetta schwärmt so süßlich von der schönen Gestalt Marias, dass die erotische Ebene unüberhörbar ist – zumindest, wo so verführerisch gesungen wird wie hier von Pia Davila. Sie hat sich zuletzt im Bereich der Neuen Musik und Liedgesang einen Namen gemacht, etwa als Solistin in der Oper „Licht“ von Karlheinz Stockhausen.

Mit diesem Album ruft sie eindrücklich ihre Kunst des Geschichtenerzählens bei älterer Musik in Erinnerung. Und hat dabei Musikerinnen und Musiker an ihrer Seite, die diese Kunst auch instrumental fabelhaft beherrschen. Deutlich wird das in den Werken von Salmone Rossi, die das Ensemble Musica Getutscht zwischen den Arien eingestreut hat. 

Musica Getutscht und Hana Blažíková interpretieren Domenico Mazzocchi

Auch nach 400 Jahren kann Monteverdi mitreißen

Barockgeigerin Mechthild Karkow und Blockflötist Claudius Kamp werfen einander in lustvollem Wechselspiel die Phrasen zu, gestalten mit allen Mitteln der barocken Verzierungskunst. Besonders spannend gelingt der Kontrast an Farben: Kratzige Darmsaiten-Kauzigkeit gegenüber eleganter Flötenwärme, zackige Zungenstöße neben Geigengesängen.

Dieses Album lässt bei Barockfans keinerlei Wünsche offen und dürfte durch die emotionale und individuelle Interpretationskunst sogar auch den letzten Zweifler davon überzeugen, dass die musikalische Rede des Frühbarocks selbst vierhundert Jahre nach Monteverdi noch mitreißen kann.

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AUTOR/IN
Thilo Braun
KÜNSTLER/IN
Pia Davila, Ensemble Musica Getutscht