Musikvermittler und Bach-Experte

Vom Kantor zur Carnegie Hall: Helmuth Rilling wird 90

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Eva Pobeschin
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Dominic Konrad
Dominic Konrad, Autor und Redakteur bei SWR Kultur und SWR Musik (Foto: SWR, Foto: Dominic Konrad)

In den 1980er-Jahren spielte Helmuth Rilling als erster Dirigent überhaupt Bachs gesamtes Vokalwerk ein. Bis heute ist sein Name eng mit dem großen Komponisten verknüpft: Als Gründer und Leiter der Bachakademie Stuttgart, des Bach-Collegiums und der Gächinger Kantorei ist er ein Pionier in Sachen Musikvermittlung. Am 29. Mai feiert Helmuth Rilling seinen 90. Geburtstag.

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Die Dirigentenkarriere beginnt mit einem Wochenende auf der Schwäbischen Alb

Helmuth Rilling hat sich in den 90 Jahren seines Lebens weltweit einen Namen gemacht. Dabei fing alles recht unscheinbar an: Mit dem Studium der Schulmusik in Stuttgart, von dem er sich ein gutes musikalisches Grundwissen erhoffte.

An einem Wochenende im Jahr 1954 zog es den 21-jährigen Helmuth mit seinen Kommilitoninnen und Kommilitonen aufs Land, nach Gächingen, einem 800-Seelen-Dorf auf der Schwäbischen Alb. Man kann sich das bildlich vorstellen: ein Haufen junger Musikstudenten, die miteinander feiern, musizieren, sich aus Spaß treffen.

Ein kleiner Chor entsteht und einer muss eben den Taktstock in die Hand nehmen. Am Ende des Wochenendtrips bedankte man sich bei den Bewohnern des Dorfes für die Gastfreundlichkeit – mit einem Konzert in der Dorfkirche.

Helmuth Rilling im Film-Porträt (2018)

Mit der Internationalen Bachakademie wird Rilling zum Musik-Guru

„Ich sehe uns noch da an einer Schreibmaschine sitzen, ein Programm schreiben“, erinnert sich Helmuth Rilling. „Und dann sagt jemand: ja, wie heißt das Ensemble? Alle kommen nach Gächingen, also nennen wir es Gächinger Kantorei. Diesen Namen habe ich beibehalten.“

Dass sich daraus ein weltweiter Markenname etablieren würde, daran dachte Rilling damals noch nicht. Es blieb ja auch zunächst nur bei jährlichen Treffen der „Gächinger“, wie sie sich nannten. Jeder ging seinem Studium und Job nach. Helmuth wird Kantor an der Stuttgarter Gedächtniskirche, leitet dort den Kirchenchor. Parallel etabliert sich die Gächinger Kantorei immer mehr in der internationalen Chorszene.

Mit der Gründung der Internationalen Bachakademie Stuttgart im Jahr 1981 bekommt das alles ein festes Fundament. Unter diesem Namen gibt Rilling Konzerte, vor allem aber wird er für Generationen von Zuhörenden zum Musik-Guru. Mit seinen sogenannten „Bachakademien“ holt er die internationale Musikszene nach Stuttgart. Besonders junge Musikerinnen und Musiker.

Das Bach-Collegium Stuttgart unter Rillings Leitung mit Peter Schreier

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Rilling baut mit seiner Musik Brücken

Mit seinen Gesprächskonzerten schart Rilling über mehrere Jahrzehnte einen dichten Kreis an Bewunderern, Bach-Liebhabern, Wissensdurstigen und Financiers um sich. Das Konzept ist so einfach wie genial: Vor dem eigentlichen Konzert erklärt Rilling selbst einzelne Stellen im Werk, lässt Chor, Orchester und Solisten auf Zuruf singen und spielen. Musik zum Anfassen und Mitdenken. 

Musik baut Brücken, das ist sein Credo und das setzt er im Laufe seines Lebens auch auf andere Weise um: Helmuth Rilling spielt Bach verbotenerweise in der damaligen DDR.

Prägender Auftritt mit dem Israel Philharmonic Orchestra

Und im Jahr 1976 steht er als erster deutscher Dirigent am Pult des Israel Philharmonic Orchestra. Mit dabei ist die Gächinger Kantorei, geprobt wird gemeinsam das „Deutsche Requiem“ von Johannes Brahms. Es ist eine Zeit, in der viele Mitglieder des israelischen Orchesters Deutsch zwar verstehen, die Sprache aber nicht hören wollen. Die Erinnerungen daran sind zu schmerzhaft.

Rilling erinnert sich an das Konzert: Der Orchesterdirektor sei zu ihm gekommen und habe ihn informiert, dass die Orchester am Anfang die israelische Nationalhymne spiele. Er habe dann den Vorschlag gemacht, dass die Gächinger die Hymne auch singen könnten.

„Und abends das Konzert“, erzählt Rilling. „Die Staatspräsidentin kommt herein, das Publikum erhebt sich, und ich fange an zu dirigieren. Und da steht hinter dem Orchester der Chor auf und singt die israelische Nationalhymne. Das hat die Musiker damals so sehr bewegt, dass sie nicht mehr spielen konnten.“

Ein deutscher Chor singt hebräische Worte in Israel! Rilling wird nachgesagt, er habe damit einen neuen Anfang der Beziehung beider Länder geschaffen. Rilling engagiert sich immer wieder für die Verständigung zwischen Völkern, gibt auch neue Werke in Auftrag und widmet sich der zeitgenössischen Musik.

Evangelische Kirche in Deutschland ehrt Helmuth Rilling (2012) (Foto: IMAGO, epd)
Hohe Erhrung für seine Verdienste um die Kirchenmusik: Die Evangelische Kirche in Deutschland verleiht Helmuth Rilling zum Ende des Jahres der Kirchenmusik 2012 die Martin-Luther-Medaille.

Das Zwischenmenschliche stand im Zentrum seines Musik-Machens

Im Jahr 2013, mit 80 Jahren, gibt er seine Gächinger Kantorei, das Bach-Collegium Stuttgart und die Bachakademie an Nachfolger Hans-Christoph Rademann ab. 2017 dirigiert er, sichtlich geschwächt, ein letztes Mal im Rahmen der Bachwoche in Stuttgart. Da zeigt sich: Sein Fanclub ist ihm auch im hohen Alter treu. Das liegt sicher auch an seiner Gesamteinspielung von Bachs Vokalwerken, als erster Dirigent überhaupt.

Für seiner Fangemeinde, aber auch für seine Musikerinnen und Musiker ist Helmuth Rilling jedoch mehr als nur der Bach-Interpret: Wichtiger als eine historisch genaue, quellenkritisch hieb- und stichfeste Interpretation war ihm immer das Miteinander beim Musizieren, das Menschliche und Zwischenmenschliche.

Rilling baute Brücken, auch hin zum Publikum, dem er auf charmante Weise die Hintergründe und oft auch komplexen Sachverhalte der Musik anschaulich und verständlich erklärte. Wer Helmuth Rilling und seine Art des Musik-Machens und Musik-Vermittelns erlebt hat, dem wird das ein reiches Geschenk sein – auch heute noch, an seinem 90. Geburtstag.

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Dominic Konrad, Autor und Redakteur bei SWR Kultur und SWR Musik (Foto: SWR, Foto: Dominic Konrad)